»Immer bin ich schuld … « © Abbildungen: Prinz Rupi
Leute, ich brauche dringend Hilfe. Denn mein Hund stinkt. Pardon, er duftet nicht, er riecht einfach nur abartig. Manchmal stinkt er sogar infernalisch, und auch mein ständiges Herumschwenken mit einer Dose Tannenduftspray hilft kaum.
Besonders brutale Winde wehen, wenn es mir mithilfe einer Nasenklammer gelungen ist, ihm eine frische Portion Blättermagen oder Pansen in unserer gemeinsamen Wohnhöhle zu servieren. Darüber freut er sich dann so, dass er schon beim Verzehr wild mit dem Hinterteil wedelt und Blähgase in unendlicher Fülle seinem glücklichen Körper entsteigen lässt. Küsst er mich dann später und schleckt mir dankbar für die duftige Gabe das Gesicht ab, dann atme ich seine aus allen Öffnungen dringenden Faulgase ein und weiß, es hat ihm mal wieder gut geschmeckt HIER geht es weiter →
Schnätterätäng. Schnätterätäng. Schnätterätängterängtängtäng! Durch die Straßen des österreichischen Luftkurortes Bad Aussee, dem geographischen Mittelpunkt Österreichs, marschiert die örtliche Feuerwehrkapelle mit strammem Schritt. An stolz geschwellter Brust des Hauptmanns glitzern Verdienstorden und Medaillen, und er kommandiert vernehmlich sein »Vorwärts, Marsch!«. Neben ihm schreiten zwei Mädchen im Dirndl, die ein hölzernes Schnapsfässchen tragen, wie es sonst Bernhardinerhunde um den Hals gehängt haben, um Verschütteten Trost zu spenden. Daraus zapfen sie heimischen Zirbenschnaps, der geschmacklich mit Fichtennadel angereichertem Badewasser ähnelt. HIER geht es weiter →
Partnertausch im Treppenhaus: »Cosi fan tutte« im Salzburger Festspielhaus.
© Monika Rittershaus
Treueagenturen melden Hochkonjunktur. Dabei versuchen entsprechend versierte Damen oder Herren, den Beziehungspartner des jeweiligen Auftraggebers anzubaggern und zu einem Seitensprung zu bewegen. Informationen über Gewohnheiten, Stammkneipen und Interessen erleichtern ihnen die Arbeit und den erwünschten Zugriff. Tappt der derart Angemachte in die Sex-Falle, ist sein mangelhaftes Verhältnis zur Treue bewiesen, und es darf vermutet werden, wie sich die Beziehung der beiden Liebenden wohl künftig entwickeln wird.
Dabei betrügen sie alle, behauptet Komponist Wolfgang Amadeus Mozart und gibt seiner Oper zum Thema Treuetest auch gleich einen entsprechend programmatischen Titel. »Così fan tutte« heißt sein Werk in zwei Akten, und das bedeutet wörtlich: »So machen (sie) es alle«. Unmissverständlich reduziert Mozart diese Behauptung bereits im Titel seines »Dramma giocoso« auf die Treulosigkeit der Damenwelt, weil Männer für ihn wohl mehr Ehre im Leib haben als das »schwache Geschlecht«. Ein Stoff für Feministinnen ist diese Oper daher wohl kaum.
In der im Untertitel als »Die Liebesschule« bezeichneten Geschichte geht es um zwei Freunde, denen ein gefallener Engel namens Don Alphonso beweisen will, dass ihre Geliebten ihnen schneller untreu werden könnten, als die Sonne auf- und wieder untergeht. Die beiden wollen es nicht glauben, schwören auf die Treue ihrer Freundinnen, und bestehen dann aber doch auf einem Beleg. »Was für ein verrücktes Verlangen«, meint Don Alphonso darauf, »versuchen, ein Übel zu enthüllen, das, hat man´s gefunden, uns armselig macht«. Er erklärt den beiden, die Treue der Frauen sei »wie der Phönix aus Arabien: dass es ihn gibt, sagt jeder, doch wo er ist, weiß keiner«.
Jedenfalls schließen die drei eine Wette ab und ab geht die Post. Hals über Kopf sollen Ferrando und Guglielmo als Soldaten in den Krieg ziehen und ihre Bräute verlassen. Das bricht den jungen Frauen zunächst fast das Herz, doch schon tauchen zwei neue Verehrer bei ihnen auf (im Stück sind es ihre maskierten Liebhaber) und werfen sich ihnen zu Füßen. Mit Hilfe kleiner Tricks, die Don Alphonso mit Unterstützung der Bedienerin Despina anwendet, landet die eine der beiden mit ihrem neuen Lover ratzfatz im Bett, während die andere sich erst ziert und dann ergibt. Im Finale wird die Sache aufgedeckt, die Paare kehren in ihre Ausgangsposition zurück, und alles wird gut.
Don Alphonso fasst die Moral von der Geschichte als Einsicht in die »Notwendigkeit der Herzen« zusammen: »Alle beschuldigen die Frauen, und ich entschuldige sie, wenn sie tausend mal am Tag den Liebhaber wechseln; die einen nennen es Laster, die anderen Gewohnheit, mir scheint es eine Notwendigkeit des Herzens zu sein. Der Liebhaber, der sich schließlich enttäuscht sieht, verurteile nicht die anderen, sondern seinen eigenen Irrtum: mögen sie jung, alt, schön oder hässlich sein, wiederholt mit mir: So machen es alle«.
Sorgte der Stoff in seiner Entstehungszeit noch für Empörung, wirkt die Geschichte anno 2009 eher hausbacken. Dabei mühte sich Claus Guth, der den Stoff für die diesjährigen Salzburger Festspiele aufbereitete, um ein modernes Gewand. Er inszeniert die Beziehungskiste in ein elegantes Wohnhaus mit Sitzgruppe, offener Treppe und Galerie, auf der gesoffen, getanzt und gehurt wird. Mit seiner ausgefeilten Regiearbeit müht sich Guth, die Geschichte in Richtung eines bewussten Partnertausches zu interpretieren, da es so gut wie ausgeschlossen scheint, dass die beiden Frauen ihre eigenen Verlobten nicht erkennen, die sich zudem nur zeitweise mit afrikanischen Holzmasken tarnen. Deutlich wird das dem Betrachter aber ebenso wenig wie die Beantwortung der Frage, wer denn schlussendlich zu wem findet. Ein Hin und Her der Protagonisten im Schlussbild, musikalisch von den Stimmlagen Sopran und Bariton sowie Mezzo und Tenor getragen, trägt kaum zur Sinnfindung bei und lässt bewusst offen, ob es denn überhaupt möglich ist, nach einem derartigen Desaster wieder Vertrauen zu bilden und zueinander zu kommen.
Claus Guths Salzburger »Cosi«-Adaption schließt den Zyklus der drei Mozart-Opern, die zwar sämtlich von dem Librettisten Lorenzo Da Ponte (1749-1838) stammen, allerdings weder musikalisch noch inhaltlich verbunden sind. Der Regisseur versucht hingegen, einen Zusammenhang herzustellen und verwendet dazu diverse Bildzitate aus den beiden anderen von ihm erarbeiteten Salzburger Operninszenierungen, »Don Giovanni« von 2008 und »Die Hochzeit des Figaro« von 2006.
Spielte der »Figaro« noch in einem herrschaftlichen Treppenhaus, könnte der Betrachter mit Wohlwollen bei »Cosi« mutmaßen, das Haus sei umfangreich modernisiert und in ein modernes Wohnensemble verwandelt worden. Deutlicher wird das Bildzitat, wenn im Bühnenbild der »Liebesschule« eine Hauswand in den Bühnenhimmel gezogen wird, um einen Blick in den Garten frei zu geben. Dieser entpuppt sich als jener Hochwald, in dem der Frauenheld Don Giovanni ein Jahr zuvor Frauen jeden Ranges, jeder Gestalt und jedes Alters flachlegte, um schließlich an einer Schussverletzung, die ihm der Vater einer enttäuschten Liebe beibringt, zu verenden.
Egal, ob die drei Opern des Zyklus nun ineinander greifen oder nicht: Mozarts Musik ist leicht, beschwingt und wundervoll, und die sängerische Leistung schenkt Genuss. Miah Persson, die sich noch in der Generalprobe stimmlich vertreten ließ, passte als Fiordiligi optimal zu Isabel Leonard als Dorabella, während Topi Lehtipuu als Ferrando und Florian Boesch als Guglielmo in den Rollen der Liebhaber brillierten. Deutlich fällt bei der Salzburger »Cosi«-Inszenierung die schauspielerische Leistung der Akteure ins Gewicht, die sich in glänzend aufeinander abgestimmter Choreographie bewegten. Hier steht eine neue Generation von Schauspieler-Sängern auf der Bühne, die dem Musiktheater auch für die Zukunft eine solide Basis geben.
Sämtliche drei Salzburger Inszenierungen von Claus Guth werden auf 3sat gezeigt:
Don Giovanni am 14.08.09, 20.15 Uhr
Cosi fan tutte am 15.08.2009, 20.15 Uhr
Le Nozze di Figarro am 16.08.2009, 20.15 Uhr
Truman Capote verzichtete bewusst auf die üblichen Reporterutensilien wie Tonband oder Diktiergerät, er nutzte nicht einmal Stift und Papier bei seinen Interviews. Der Autor setzte lediglich sein Hirn als Speichermedium ein, weil er der Überzeugung war, nur so eine natürliche Beziehung zwischen den Interviewpartnern (dem nervösen Kolibri und dem Vogelfänger, wie er es nannte) herstellen zu können. Die Ergebnisse dieser Arbeitsmethode lässt sich jetzt in geballter Form in seinen gesammelten Reportagen und Porträts nachlesen, und ich gestehe neidlos: Capotes Texte sind gnadenlos gut.
Eingeleitet wird der voluminöse Band nicht-fiktionaler Texte von Capotes umfangreichem Konversationsporträt des exzentrischen Schauspielers Marlon Brando, den er in einem Hotel in Kyoto während der Dreharbeiten zum Liebesmelodram »Sayonara« besuchte. Er schildert den Charakterdarsteller als »Fürst in seinem Reich« und nutzt Brando zugleich als Versuchskaninchen, um eine neue Art des journalistischen Schreibens auszuloten.
Capotes Ansatz lautete, eine Reportage ebenso anspruchsvoll zu schreiben wie jede andere Art Prosa, sei es Essay, Kurzgeschichte oder Roman. Im Erscheinungsjahr 1956 war das ein Wagnis, und Capote schildert den Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Was ist die niederste Stufe des Journalismus? Anders gefragt, welcher Dreck lässt sich am schwersten zu Geld machen? Antwort, ganz klar: Interviews mit Hollywood-Stars, dieses unerträgliche Promi-Gelaber. So etwas zur Kunst zu erheben, wäre eine echte Aufgabe.«
Capote gelang mehr als das: seine journalistischen Texte lesen sich wie Literatur und wurden zu einer eigenen Kunstform. Seine Reportagen und Porträts sind Kampfansagen an eine zunehmend unverständliche Sprache der so genannten Hochliteratur, die sich auf rein formale Spielereien und auf die Vernachlässigung der Alltagsstoffe kapriziert. »Schlicht sollen sie sein, meine Sätze, und klar wie ein Gebirgsbach«, lautete sein sprachliches Credo, während er bei seinem Stil besonderen Wert legte auf die Gestaltung »statischer« Textteile, mit denen er seinen jeweiligen Gesprächspartner und die Stimmung des Interviews herausarbeitete.
Eine gewalttätig knisternde Spannung liegt auf seinem Gespräch mit Robert Beausoleil, einem Dauergast im Hochsicherheitstrakt von San Quentin in Kalifornien. Der Leser spürt unmittelbar den mörderischen Atem der wohl schillerndsten Gestalt aus der Charles-Manson-Sekte, der sich im Gefängnis zum Anführer der faschistischen »Arischen Bruderschaft« erhob.
Ganz anders und nahezu beschwingt schilderte Capote das Tagewerk der Mary Sanchez. Er begleitet die Putzfrau auf ihren Einsatzorten in New York und erfährt dabei enorm viel über sie wie über die Bewohner der Appartements, die sie putzt. Sanchez erträgt ihre Arbeit als Putzteufel, indem sie immer wieder zu einer kleinen Blechschachtel greift, in der sich eine Ansammlung von Jointkippen befindet. Irgendwann gelingt es ihr, Capote zum Mitrauchen zu animieren und darauf bekommt die Story einen wundervoll leichten, geradezu bekifften Touch.
In »Versteckte Gärten« wiederum beschäftigt sich Capote in einer Art Selbstgespräch mit seiner Heimatstadt New Orleans. Dazu setzt er sich an einem prachtvollen Frühlingstag in einen uralt gewachsenen Park und reflektiert, was er dort sieht und erlebt. In einem der Gespräche, die der Wind an sein Ohr trägt, streitet sich ein Zuhälter mit einer Frau, die für ihn anschafft, und es wäre kein Text von Capote, wenn die Dame nicht am Schluss der Geschichte wie zufällig vorbei kommt und ihn anspricht.
Wer sich für journalistische Sprache und Stil interessiert, der wird von Capote vorzüglich bedient. Der am 30. September 1924 in New Orleans geborene Autor steht für den »New Journalism«, zu dessen Wegbereitern auch Tom Wolfe, Hunter S. Thompson und Norman Mailer zählen. Sein 1958 veröffentlichtes »Frühstück bei Tiffany« erlangte auch dank der Verfilmung mit Audrey Hepburn große Berühmtheit. Capote begründete 1965 mit seinem Welterfolg »Kaltblütig«, der exakten Aufarbeitung eines blutigen Mordes an einer Farmerfamilie, sogar eine neues Genre: den Tatsachenroman. Truman Capote starb am 25. August 1984 in Los Angeles.
Truman Capote
Die Hunde bellen. Reportagen und Porträts
Kein & Aber, Zürich 2008
ISBN 978-3-0369-5163-8
Schreibtisch von Thomas Bernhard (1931-1989) in seinem Haus in Gmunden. Foto: © Wilhelm Ruprecht Frieling
Thomas Bernhards Roman »Holzfällen« war kaum erschienen, das wurde das Buch in Österreich am 29. August 1984 gerichtlich beschlagnahmt und verboten. Der in dem Text angeblich dargestellte Komponist Lampersberg und seine Frau, die Sängerin Maja Lampersberg, meinten sich in dem Werk wieder zu erkennen und hatte die Klage ausgelöst. Erst im Februar 1985 konnte eine außergerichtliche Einigung erzielt werden, die Klage wurde zurückgezogen und der »Schlüsselroman« wieder frei gegeben.
In dem Text beschreibt der Erzähler, der von London nach Wien zurückgekehrt ist, wie er bei einem Spaziergang vom Ehepaar Auersberger angesprochen und zu einem »künstlerischen Abendessen« eingeladen wird. Obwohl er die Auersbergers hasst und überhaupt keine Lust auf eine derartig fragwürdige Geselligkeit hat, sagt er zu und erscheint.
Den Ablauf des Abends schildert Bernhard nun mit den für seinen Stil typischen Endlossätzen aus der sicheren Perspektive eines Ohrensessels, von dem aus er die Szene beobachtet. Er verflucht sich und seinen Leichtsinn, die Einladung der Auersbergers angenommen zu haben, da sich beide durch extreme Langeweile und Hohlheit auszeichnen. Frau Auersberger ist Sängerin, Herr Auersberger Komponist, ein »armseliger talentierter Spießbürger«, ein »vom Vermögen seiner Frau stumpfsinnig gewordener Gesellschafts-Kopist«.
Die geladenen Gäste, die er sämtlich von früher kennt und seitdem verachtet, seien ursprünglich alle nach Wien gekommen, um dort Karriere zu machen. Allerdings hätten sie es lediglich zu »Künstlerattrappen« gebracht. Die »leben und leben und leben und langweilen sich im Grunde durch ihr ganzes Leben und werden älter und älter und älter und sind nichts als nutzlos«.
Besonders stinkt dem Erzähler das mitternächtliche Erscheinen des Stargastes des Abends, einem selbst gefälligen Schauspieler vom Burgtheater, der an diesem Abend als Ekdal in Ibsens »Wildente« aufgetreten war. Die Figur des unentwegt psalmierenden und fressenden und psalmierenden Schauspielers gibt Bernhard Anlass zu einer giftigen Suada über die Wiener Theaterszene im Allgemeinen und das Burgtheater im Besonderen. Bei dem Stargast des »künstlerischen Abendessen« handele es sich um den »Prototypus des durch und durch fantasielosen und also völlig geistlosen Poltermimen«, gleichwohl das Publikum gebannt an seinen Lippen hänge, welchen Unsinn auch immer aus seinem Munde ströme.
Im Anschluss an das Nachtmahl legt der Burgschauspieler, der mehrere Gläser Wein getrunken hat, ein pathetisches Bekenntnis zur Natur ab: »Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen«, notiert Bernhard, der bald darauf als letzter Gast die Wohnung verlässt. Zuvor belügt er der Auersbergerin noch nach Strich und Faden. Es sei ein ganz besonders gelungener Abend gewesen, er fände den Burgschauspieler ganz einzigartig, und er schätzte ihr künstlerisches Abendessen über alle Maßen, schleimt er, wo die gesamte Veranstaltung ihm doch nichts weniger als abstoßend erschienen war.
»Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, als abstoßende Menschen, mit welchen wir möglichst wenig zu tun haben wollen, während wir doch, wenn wir ehrlich sind, andauernd mit ihnen zu tun haben und genauso sind wie sie.«
Angeekelt von sich selbst stürzt er schließlich nach draußen, einzig beseelt von dem Wunsch, sofort alles niederzuschreiben.
Bernhards »Holzfällen« ist ein tosender Sturzbach der Worte, ein endloser Satzschwall, den er erbricht, und der keine Gemeinheit und Niederträchtigkeit auslässt. Der Text ist eine ätzende Kritik an der feinen Wiener Gesellschaft, am Künstlertum, am Theater, an der Schauspielerei. Dem Autor ist die faszinierende Gabe des exakten Beobachtens gegeben, die bis in das sorgfältige Zerlegen eines Satzes beim Löffeln einer Suppe reicht.
Mit »Holzfällen« schleudert Bernhard seinen Hass auf die ihn umgebende Gesellschaft hinaus und macht zugleich deutlich, dass diese Verachtung Selbsthass ist, der ihn treibt. Seine Verachtung wiederholt er in immer wiederkehrendem Rhythmus, der Ravels »Bolero« angepasst ist, der wie als ein deutlicher Hinweis am Laufe des Abends auf den Plattenteller gelegt wird. Entsprechend der Musik schreibt Bernhard im Ostinato, in stetiger Wiederholung, die das Mahlwerk seiner Gedanken hervorbringt.
Dabei, und das macht die eigentliche Virtuosität Bernhards aus, ist es kein Klagegesang eines alten Grantlers, den er vorlegt. Der Text ist vielmehr in jeder Hinsicht komisch, er ist sogar dermaßen grotesk, dass der Leser nicht lächeln, nein, laut lachen muss, folgt er der Schilderung des Abends. »Holzfällen« ist eine gewaltig-geniale Schmähschrift auf den Kunstbetrieb und die Gesellschaft. Das Buch liest sich wie im Rausch, wenn man sich auf den eigenwilligen Stil Bernhards einlässt. Es ist gut nachzuvollziehen, dass die Veröffentlichung des urkomischen Werks diejenigen, die sich erkannten, auf die Palme getrieben hat. In Wien war es jedenfalls lange Jahre Mode, darüber zu spekulieren, wer denn der ein oder andere Protagonist in Wirklichkeit sei.
Thomas Bernhard
Holzfällen. Eine Erregung
Suhrkamp 2009 ISBN 978-3518380239
Wer mehr von Thomas Bernhard lesen möchte, findet H I E R meine weitere Rezensionen.
Als meine Großmutter 1952 einen monströsen Schwarzweißfernseher anschaffte, wurde sie zur Sensation des Städtchens. Die Nachbarschaft kam und bestaunte die sündhaft teure Flimmerkiste, von der es seinerzeit gerade mal 4.000 Stück in Deutschland gab. Zu festgelegten Zeiten meldete sich Studio Hamburg und schickte bewegte Bilder in die Wohnstuben. Der Siegeszug eines Massenmediums begann, und meine Oma trug die Fahne voran. Heute würden wir die Gute wohl einen »Early Adopter« nennen und sie damit als Menschen bezeichnen, der technisch die Nase weit vorn hat. HIER geht es weiter →
Vom 9. – 7. Juni fand in Köln das 3. Barcamp statt. Fotos © W. R. Frieling
Twittern, bis der Arzt kommt
Ein Besuch beim Barcamp Köln
Auf einer großen Leinwand lese ich eine Nachricht, die über Twitter online ins Netz gestellt wurde: »Endlich lerne ich @Prinz_Rupi mal persönlich kennen – in der Twitter-Session in Raum 3 beim #bcc3« Prinz Rupi ist mein Nickname im Web und bcc3 steht für BarcampCologne, das bereits zum dritten Mal stattfindet. Der Autor dieser freundlichen Botschaft, ein Herr Sichelputzer, sitzt direkt neben mir. Ich kannte Sichelputzer bislang nur virtuell aus seinen Blogbeiträgen und Tweets. Statt mich jedoch per Handschlag zu begrüßen, wie es unsere Vorväter zu tun pflegten, begrüßt er mich virtuell. Ich antworte ihm auf eben diese Weise und twittere ein Dankeschön in den virtuellen Raum. Hi, Sichelputzer, willkommen im Barcamp!
Andere Teilnehmer der Veranstaltung begrüßen sich, indem sie einen kleinen Plastikknochen aneinander reiben. Das Teil nennt sich Poken und überträgt bei Berührung eine elektronische Visitenkarte, um anschließend freundlich grün blinkend die erfolgreiche Übertragung anzuzeigen. An jeder Ecke wird auf diese geheimnisvolle Weise leidenschaftlich geknutscht. So lernen sich die Leute schnell und nachhaltig kennen. Sie können später auf ihren Webseiten die Daten abgleichen und genauer schauen, wen sie eben getroffen haben. Poken ist eine noch derart exklusiv verbreitete Form der Kontaktaufnahme, dass erst 1.500 Deutsche es kennen und nutzen. Auf dem Barcamp sind mindestens zehn Prozent der User zu finden, denn jeder Zweite trägt einen Poken am Halsband.
In verschiedenen Räumen finden Sessions statt. Dies sind spontan anberaumte dreißigminütige Vorträge und Präsentationen zu den verschiedensten Themen des World Wide Web. Es geht um Applikationen für das iPhone von apple, mit dem hier nahezu jeder Teilnehmer hantiert. Es geht um Programmiersprachen, um das Beseitigen störender Haare bei der Bildbearbeitung mit PhotoShop und um das Twittern im Beruf. SecondLife ist ebenso vertreten wie die Themen Zeitmanagement, alternative Lebensformen und die Frage, wann das Internet stirbt. Zur allgemeinen Erheiterung wird nachmittags Powerpoint-Karaoke aufgeführt. Dabei stellen sich Mutige zur Verfügung, um den Showroom zu erheitern, indem sie aus dem Stehgreif zu einer ihnen unbekannten Präsentation möglichst originell vortragen müssen. Beim Barcamp geschieht, was die Teilnehmer selbst anbieten und hören wollen.
Bei jedem Vortrag sitzen Nerds vor ihren aufgeklappten Laptops und tippen wild hinein. Es wirkt, als machten sie alles andere, als dem jeweiligen Referenten zuzuhören. Der lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, denn tatsächlich saugen die Camper Wissen und verbreiten die Informationen im Netz. Und genau darin liegt ein Sinn des Barcamps: Wissen kostenfrei abzugeben und zu verbreiten.
»Wir arbeiten für das Internet« steht auf dem schwarzen T-Shirt von Franz Patzig, einem der Organisatoren des Camps. Seine Losung ist Programm. 250 Internet-Enthusiasten sind der öffentlichen Einladung gefolgt und haben sich zu einem festen Zeitpunkt für den Event angemeldet. Das Interesse ist enorm, und jede Werbung überflüssig. Innerhalb von knapp 15 Minuten war die Veranstaltung komplett ausgebucht. Wenige Augenblicke später drängelten sich bereits 200 weitere Interessenten auf der Liste, die noch auf einen freien Platz hofften.
Meine Session hat ein ebenso spezielles Thema wie das der anderen Teilnehmer. Mein Fachgebiet ist das digitale Publizieren, das mit den Stichworten Printing-on-demand, Book-on-demand und E-Book beschrieben werden kann. Um den Beamer zu bedienen, fehlt mir ein Stecker. Mein MacBook Pro ist »zu modern« für das Windows-orientierte Netz der gastgebenden Firma QSC. Was tun? Ich setze per Twitter einen Tweet ab und rufe um Hilfe. Mittels des für die Veranstaltung reservierten Hashtags »bcc3« lesen es die anderen auf Twitter. Es dauert keine zehn Minuten und »QSC-Evangelist« Andreas Schmidt drückt mir aus seinem privaten Bestand den erforderlichen Adapter in die Hand. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ist eine selbstverständliche Angelegenheit unter Barcampern.
»Kannst du mir vielleicht mal dieses Tool erklären«, ist eine Frage an einen wildfremden Menschen, die auf dem Barcamp stets freundlich beantwortet wird. Jeder hilft jedem gern und gibt ohne Murren sein Wissen preis. Den Teilnehmern ist bewusst, dass sich der klassische Umgang mit Herrschaftswissen nur knacken lässt, wenn das Wissensmonopol Weniger aufgelöst wird und Informationen sozialisiert werden. In diesem Sinne haben Barcamper eine beinahe frühkommunistische Einstellung, was den Umgang und die Verbreitung von Informationen angeht. Einige von ihnen arbeiten deshalb auch bei Wikipedia mit und schreiben das kostenfreie Internet-Lexikon fort, andere informieren über ihre teils hoch spezialisierten Blogs.
Barcamper verstehen sich als »Early Adopters«, als Leute, die technisch die Nase ganz weit vorn haben und bereits weitgehend digital leben und umgehen. Wie weit sie die Nase vorn haben, wird deutlich, wenn es um eine Auseinandersetzung mit der aktuell herrschenden Politikkaste geht. Wird in den Regierungsdezernaten das Internet als Teufelswerk angesehen, das unbedingt kontrolliert und unter staatliche Aufsicht gestellt werden muss, um Chinas »himmlischen Frieden« auch über deutsche Lande zu verbreiten, stehen Barcamper auf der entgegen gesetzten Seite. Es gibt derzeit wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem das Aufeinanderprallen der Moderne auf gestriges Denken deutlicher wird als im Bereich des Internets. Internet-User verspotten die nach dem Zensor rufende amtierende Familienministerin Ursula von der Leyen als »Zensursula«. Sie schütteln den Kopf über eine Bundeskanzlerin, die öffentlich fragt, was denn ein »Browser« sei und verlachen Abgeordnete, die sich über moderne Kommunikationsformen als »Tralafiti« mokieren.
Während der Mittagspause, in dem jeder Barcamper neben Teller, Messer und Gabel auch sein Laptop traktiert, sitzt an einem Tisch ein schwarz gekleideter Trupp junger Männer, die in rasender Eile Befehlszeilen in ihre Rechner tippen und sich dabei offenbar köstlich amüsieren. Einige dieser Barcamper fühlen sich dem ChaosComputerClub zugehörig, der immer wieder durch konkrete Aktionen im Web von sich reden macht. Und auch die durchaus beachtenswerten Stimmengewinne der Piratenpartei, die am gleichen Tag bei den Europawahlen kandidiert, zeigt, dass Barcamper keine unpolitischen Gesellen sind, die sich in die Schmuddelecke drängen lassen.
Auf dem Heimweg frage ich am Ausgang in die Runde, ob jemand zufällig wisse, wo die Gellertstraße in Köln sei. Wi e auf Kommando zücken 25 Barcamper ihr iPhone und weisen mit dank GoogleMaps den Weg. Als ich kurz vor meinem Rückflug nach Berlin noch das dem Mythos der guten, alten Dinge huldigende Warenhaus Manufactum in der Innenstadt besuche, kauft neben mir ein Mann ein sündhaft teures Radio, bei dem Strom mit Kurbelbetrieb erzeugt wird. Auf meine Frage, warum er denn nicht einfach sein Handy zum Radiohören nehme, schaut er mich irritiert an: »Ein Handy habe ich nicht, und ich höre viel Radio«. Barcamp ist insofern auch ein echtes Kontrastprogramm.
Die Sparrenburg, Wahrzeichen von Bielefeld, wird gern als Ausgangspunkt der Bielefeld-Verschwörung genannt. Fotos: © R. Frieling
An der Autobahn A 2 zwischen Minden und Gütersloh am Rand des Teutoburger Waldes existiert ein Potemkinsches Dorf gewaltigen Ausmaßes: BIELEFAKE. Angeblich 325.000 Einwohner zählt die Stadt, deren Modell den Hirnen gerissener Politiker und gewiefter Filmregisseure entsprungen ist, die IHNEN untertan sind. HIER geht es weiter →
Ein kurzer Ausflug in die Stadt an der Seine
Zum Abspielen und Vergrößern bitte Video anklicken
Wer mehr über den Eiffelturm erfahren möchte,
liest meinen Hintergrundartikel auf Suite101.de