Als meine Großmutter 1952 einen monströsen Schwarzweißfernseher anschaffte, wurde sie zur Sensation des Städtchens. Die Nachbarschaft kam und bestaunte die sündhaft teure Flimmerkiste, von der es seinerzeit gerade mal 4.000 Stück in Deutschland gab. Zu festgelegten Zeiten meldete sich Studio Hamburg und schickte bewegte Bilder in die Wohnstuben. Der Siegeszug eines Massenmediums begann, und meine Oma trug die Fahne voran. Heute würden wir die Gute wohl einen »Early Adopter« nennen und sie damit als Menschen bezeichnen, der technisch die Nase weit vorn hat. HIER geht es weiter →
Vom 9. – 7. Juni fand in Köln das 3. Barcamp statt. Fotos © W. R. Frieling
Twittern, bis der Arzt kommt
Ein Besuch beim Barcamp Köln
Auf einer großen Leinwand lese ich eine Nachricht, die über Twitter online ins Netz gestellt wurde: »Endlich lerne ich @Prinz_Rupi mal persönlich kennen – in der Twitter-Session in Raum 3 beim #bcc3« Prinz Rupi ist mein Nickname im Web und bcc3 steht für BarcampCologne, das bereits zum dritten Mal stattfindet. Der Autor dieser freundlichen Botschaft, ein Herr Sichelputzer, sitzt direkt neben mir. Ich kannte Sichelputzer bislang nur virtuell aus seinen Blogbeiträgen und Tweets. Statt mich jedoch per Handschlag zu begrüßen, wie es unsere Vorväter zu tun pflegten, begrüßt er mich virtuell. Ich antworte ihm auf eben diese Weise und twittere ein Dankeschön in den virtuellen Raum. Hi, Sichelputzer, willkommen im Barcamp!
Andere Teilnehmer der Veranstaltung begrüßen sich, indem sie einen kleinen Plastikknochen aneinander reiben. Das Teil nennt sich Poken und überträgt bei Berührung eine elektronische Visitenkarte, um anschließend freundlich grün blinkend die erfolgreiche Übertragung anzuzeigen. An jeder Ecke wird auf diese geheimnisvolle Weise leidenschaftlich geknutscht. So lernen sich die Leute schnell und nachhaltig kennen. Sie können später auf ihren Webseiten die Daten abgleichen und genauer schauen, wen sie eben getroffen haben. Poken ist eine noch derart exklusiv verbreitete Form der Kontaktaufnahme, dass erst 1.500 Deutsche es kennen und nutzen. Auf dem Barcamp sind mindestens zehn Prozent der User zu finden, denn jeder Zweite trägt einen Poken am Halsband.
In verschiedenen Räumen finden Sessions statt. Dies sind spontan anberaumte dreißigminütige Vorträge und Präsentationen zu den verschiedensten Themen des World Wide Web. Es geht um Applikationen für das iPhone von apple, mit dem hier nahezu jeder Teilnehmer hantiert. Es geht um Programmiersprachen, um das Beseitigen störender Haare bei der Bildbearbeitung mit PhotoShop und um das Twittern im Beruf. SecondLife ist ebenso vertreten wie die Themen Zeitmanagement, alternative Lebensformen und die Frage, wann das Internet stirbt. Zur allgemeinen Erheiterung wird nachmittags Powerpoint-Karaoke aufgeführt. Dabei stellen sich Mutige zur Verfügung, um den Showroom zu erheitern, indem sie aus dem Stehgreif zu einer ihnen unbekannten Präsentation möglichst originell vortragen müssen. Beim Barcamp geschieht, was die Teilnehmer selbst anbieten und hören wollen.
Bei jedem Vortrag sitzen Nerds vor ihren aufgeklappten Laptops und tippen wild hinein. Es wirkt, als machten sie alles andere, als dem jeweiligen Referenten zuzuhören. Der lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, denn tatsächlich saugen die Camper Wissen und verbreiten die Informationen im Netz. Und genau darin liegt ein Sinn des Barcamps: Wissen kostenfrei abzugeben und zu verbreiten.
»Wir arbeiten für das Internet« steht auf dem schwarzen T-Shirt von Franz Patzig, einem der Organisatoren des Camps. Seine Losung ist Programm. 250 Internet-Enthusiasten sind der öffentlichen Einladung gefolgt und haben sich zu einem festen Zeitpunkt für den Event angemeldet. Das Interesse ist enorm, und jede Werbung überflüssig. Innerhalb von knapp 15 Minuten war die Veranstaltung komplett ausgebucht. Wenige Augenblicke später drängelten sich bereits 200 weitere Interessenten auf der Liste, die noch auf einen freien Platz hofften.
Meine Session hat ein ebenso spezielles Thema wie das der anderen Teilnehmer. Mein Fachgebiet ist das digitale Publizieren, das mit den Stichworten Printing-on-demand, Book-on-demand und E-Book beschrieben werden kann. Um den Beamer zu bedienen, fehlt mir ein Stecker. Mein MacBook Pro ist »zu modern« für das Windows-orientierte Netz der gastgebenden Firma QSC. Was tun? Ich setze per Twitter einen Tweet ab und rufe um Hilfe. Mittels des für die Veranstaltung reservierten Hashtags »bcc3« lesen es die anderen auf Twitter. Es dauert keine zehn Minuten und »QSC-Evangelist« Andreas Schmidt drückt mir aus seinem privaten Bestand den erforderlichen Adapter in die Hand. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ist eine selbstverständliche Angelegenheit unter Barcampern.
»Kannst du mir vielleicht mal dieses Tool erklären«, ist eine Frage an einen wildfremden Menschen, die auf dem Barcamp stets freundlich beantwortet wird. Jeder hilft jedem gern und gibt ohne Murren sein Wissen preis. Den Teilnehmern ist bewusst, dass sich der klassische Umgang mit Herrschaftswissen nur knacken lässt, wenn das Wissensmonopol Weniger aufgelöst wird und Informationen sozialisiert werden. In diesem Sinne haben Barcamper eine beinahe frühkommunistische Einstellung, was den Umgang und die Verbreitung von Informationen angeht. Einige von ihnen arbeiten deshalb auch bei Wikipedia mit und schreiben das kostenfreie Internet-Lexikon fort, andere informieren über ihre teils hoch spezialisierten Blogs.
Barcamper verstehen sich als »Early Adopters«, als Leute, die technisch die Nase ganz weit vorn haben und bereits weitgehend digital leben und umgehen. Wie weit sie die Nase vorn haben, wird deutlich, wenn es um eine Auseinandersetzung mit der aktuell herrschenden Politikkaste geht. Wird in den Regierungsdezernaten das Internet als Teufelswerk angesehen, das unbedingt kontrolliert und unter staatliche Aufsicht gestellt werden muss, um Chinas »himmlischen Frieden« auch über deutsche Lande zu verbreiten, stehen Barcamper auf der entgegen gesetzten Seite. Es gibt derzeit wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem das Aufeinanderprallen der Moderne auf gestriges Denken deutlicher wird als im Bereich des Internets. Internet-User verspotten die nach dem Zensor rufende amtierende Familienministerin Ursula von der Leyen als »Zensursula«. Sie schütteln den Kopf über eine Bundeskanzlerin, die öffentlich fragt, was denn ein »Browser« sei und verlachen Abgeordnete, die sich über moderne Kommunikationsformen als »Tralafiti« mokieren.
Während der Mittagspause, in dem jeder Barcamper neben Teller, Messer und Gabel auch sein Laptop traktiert, sitzt an einem Tisch ein schwarz gekleideter Trupp junger Männer, die in rasender Eile Befehlszeilen in ihre Rechner tippen und sich dabei offenbar köstlich amüsieren. Einige dieser Barcamper fühlen sich dem ChaosComputerClub zugehörig, der immer wieder durch konkrete Aktionen im Web von sich reden macht. Und auch die durchaus beachtenswerten Stimmengewinne der Piratenpartei, die am gleichen Tag bei den Europawahlen kandidiert, zeigt, dass Barcamper keine unpolitischen Gesellen sind, die sich in die Schmuddelecke drängen lassen.
Auf dem Heimweg frage ich am Ausgang in die Runde, ob jemand zufällig wisse, wo die Gellertstraße in Köln sei. Wi e auf Kommando zücken 25 Barcamper ihr iPhone und weisen mit dank GoogleMaps den Weg. Als ich kurz vor meinem Rückflug nach Berlin noch das dem Mythos der guten, alten Dinge huldigende Warenhaus Manufactum in der Innenstadt besuche, kauft neben mir ein Mann ein sündhaft teures Radio, bei dem Strom mit Kurbelbetrieb erzeugt wird. Auf meine Frage, warum er denn nicht einfach sein Handy zum Radiohören nehme, schaut er mich irritiert an: »Ein Handy habe ich nicht, und ich höre viel Radio«. Barcamp ist insofern auch ein echtes Kontrastprogramm.
An der Autobahn A 2 zwischen Minden und Gütersloh am Rand des Teutoburger Waldes existiert ein Potemkinsches Dorf gewaltigen Ausmaßes: BIELEFAKE. Angeblich 325.000 Einwohner zählt die Stadt, deren Modell den Hirnen gerissener Politiker und gewiefter Filmregisseure entsprungen ist, die IHNEN untertan sind. HIER geht es weiter →
Ein kurzer Ausflug in die Stadt an der Seine
Zum Abspielen und Vergrößern bitte Video anklicken
Wer mehr über den Eiffelturm erfahren möchte,
liest meinen Hintergrundartikel auf Suite101.de
Es gibt wenige Autoren, deren Stil derart prägend ist, dass ihr Name zum Begriff wird. Kafka gehört dazu, wir sprechen beispielsweise von kafkaesken Szenarien. James Graham Ballard, der am 19. April 2009 nach langer Krankheit im Alter von achtundsiebzig Jahren in den Literaturhimmel entschwand, ist ein weiteres Beispiel. HIER geht es weiter →
Am Wochenende landete ich in Sachsen. Das ist das Bundesland, dem spitze Zungen besondere Rechtslastigkeit nachsagen. Tatsache ist, dass es dort kein Dorf und keine Gemeinde gibt, in der die NPD weniger als fünf Prozent Stimmvieh um sich versammelt hat. Von verschiedenen Seiten wurde ich nun mit wissendem, leicht süffisantem Lächeln darauf hingewiesen, dass am 20. April »Führers Geburtstag« sei.
Warum ist der älteren Generation der 20. April als Führergeburtstag so stark in Fleisch und Blut übergegangen? Ist es der tägliche Faschismus, der in vielen nistet?
Die Antwort ist profan: Der Größte Feldherr aller Zeiten (GröFaZ) hatte sich selbst zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt und den Tag als schulfrei erklärt. Mit viel Tamtam und Trara, mit Hetzreden und Naziliedern wurde lautstark gefeiert. Dabei wurde unter den Teppich gekehrt, dass der arbeitsscheue Kümmerling aus Braunau ein jämmerlicher Sitzenbleiber und Schulversager war, der nur mühsam eine Halbbildung inhalierte, aus der er sich sein krankes Weltbild schneiderte.
Am Vorabend des Führergeburtstages wurden jährlich im ganzen Deutschen Reich Jugendliche feierlich in die Hitler-Jugend aufgenommen. Aus diesen Gründen pflanzte sich der Termin bei jungen Menschen tief in die Köpfe. Heute sind die Hitlerjungen von damals alte Herren und immer noch gedenken einige von ihnen dieses »besonderen« Tages.
Mit Grausen erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an Besuche der Bayreuther Festspiele, wo betagte Smokingträger Richard Wagners Weihetempel betraten und sich in Richtung »Führerloge« verbeugten. (Das ist der Platz, wo der unmusikalische Diktator sich der mächtigsten Musik der Geschichte der Tonkunst hingab.)
Der Generation unserer Urgroßeltern war übrigens der 27. Januar heilig. Das war der Geburtstag des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II., und auch zu diesem Anlass durfte offiziell die Schule geschwänzt werden.
Heute sollten wir den 20. April nutzen, um an die Verbrechen des Hitler-Regimes zu erinnern. Der Ungeist der Nazis kriecht leider immer wieder durch deutsche Köpfe (das ist der Ort, wo bei gesunden Menschen das Denksystem beheimatet sein sollte). Auch in den sozialen Medien agieren bekennende Nationalsozialisten und Leute, die sich für die Blut-und-Boden-Ideologie stark machen.
Es liegt an uns, den Anfängen zu wehren. Von außen oder gar von Politikern ist keine Hilfe zu erwarten. Meine Forderung zum Tag lautet deshalb: Verschrottungsprämie für Hitleristen!
Szenenfotos aus Robert Wilsons Inszenierung von Shakespeares »Sonette« im BE
Sämtliche Fotos © Wilhelm Ruprecht Frieling, 2009
Über die Bühne des »Berliner Ensemble« staksen menschliche Scherenschnitte. Grell geschminkte Gestalten mit dürren Beinen, hoch toupierten Haaren und Pumphosen tänzeln, springen, hüpfen, fliegen durchs Bild. Sie grunzen, schnaufen, stöhnen, gurren, kichern und lachen in aufwändiger Choreographie, die einem Ballett ähnelt. Mitunter sprechen sie einzelne Sätze, wiederholen diese, ziehen sie in die Länge und betonen sie wieder anders und aufs Neue. Dann singen sie, mal auf englisch, meist aber auf deutsch, mal einzeln, zu zweit, dann wieder im Chor. Unterbrochen werden sie von Glockenklang, Straßenlärm, Hupen und kakophonisch einsetzenden Streichern. Drei Stunden lang läuft dieses grell-bunte Inferno ab, unterbrochen nur von einer störenden Pause. Die legendäre Brecht-Bühne am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte liefert eine verstörende Traumwelt und zieht dazu sämtliche Register.
Wer dieses surreale Szenario atmet, der weiß sofort: er befindet sich mitten in einer quicklebendigen Inszenierung von Robert Wilson. Der amerikanische Regie-Altmeister hatte in den letzten Jahren am BE mit Brechts »Dreigroschenoper« und Büchners »Leonce und Lena« (mit der Musik von Herbert Grönemeyer) zwei Proben seines typischen choreographischen Tanztheaters geliefert, die das Publikum von den Stühlen riss. Wilson behandelt Sprache wie einen Körper, er lässt sie kreisen und verwickelt sie in einen mitreißenden Strudel aus Gesten, Gebärden, Bildern und Musik. Dem Zuschauer bietet er Sinnenfreuden pur. Augen und Ohren kommen voll auf ihre Kosten und werden überreichlich bedient.
Worum geht es? Üblicherweise wird auf der Bühne eine Geschichte erzählt. Das erleichtert dem Zuschauer das Verständnis und dem Rezensenten die Arbeit: er erzählt die Story, schmückt alles etwas aus, schmiert giftige Polemik in die Fugen, und schon ist seine Besprechung fertig. Das funktioniert hier nicht. Denn es geht um Sonette.
Sonette sind Klanggedichte mit jeweils 14 Zeilen in fester Metrik. Diejenigen, um die es hier geht, stammen von Shakespeare und erschienen erstmals 1609, also vor exakt 400 Jahren. William Shakespeare, über dessen wahre Identität sich die Forschung leidenschaftlich streitet, gilt als der König des Sonetts »in jambischen Pentameter mit weiblicher oder männlicher Kadenz«, um es literaturwissenschaftlich exakt auszudrücken und ein wenig Schaum auf den Kakao zu legen. Der Dichter des elisabethanischen Zeitalters hat 154 dieser fragilen Blüten erschaffen und damit einen Höhepunkt der englischen Renaissance und ihrer Widerspiegelung in Literatur und Dramatik inszeniert. Doch keine Angst: In den richtigen Händen werden diese Verse zu Dynamit.
Worum geht es in den Sonetten? Shakespeare wendet sich an einen »fair boy« und eine »dark lady« als scheinbar homoerotische Geliebte. Er appelliert an den jungen Mann, einen schönen Nachkommen zu erzeugen, um damit unsterblich zu werden. (»Im Vers zwingst du die Sterblichkeit. / Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn, / Solang dies steht, solang wirst du bestehn.«) Er spricht über das Altern, die Eifersucht, das Alleinsein, die Furcht vor Liebesverlust, aber auch über Tod, Tugend, Redlichkeit und die Dummheit der Welt.
Für sein dreistündiges Bühnenspiel wählte Robert Wilson 25 der insgesamt 154 Sonette aus und baute sie in ein bewegliches Bühnenbild ein, das ständig, und weitgehend offen sichtbar, umgebaut wird. Unterbrochen werden die Sonette durch Auftritte des Travestierstars Georgette Dee als lästermäulige Diseuse im schwarzen Samtkleid. Alles ist in ein ständig wechselndes energetisches Licht getaucht, das den Beleuchtern Schweißperlen auf die Stirn treten lassen dürfte. Jede Bewegung der Akteure wird exakt ausgeleuchtet, verfolgt und mit dem vollen Einsatz von Neonröhren, Flächenscheinwerfern, Farbfolien, Projektoren begleitet.
Und dann klingt da Musik. Rufus Wainwright, ein Opern-affiner Songwriter unternimmt einen wilden Ritt durch die Musikgeschichte und setzt von mittelalterlicher Tafelmusik über Tango und ungarische Zigeunerweisen bis hin zu Rockballaden alles ein, was sein Komponistenherz hergibt. Dabei hat er es geschafft, sich mit Robert Wilson derart exakt abzustimmen, dass eine nahezu vollständige, Atem beraubende Synchronizität zwischen dem Orchester und den Schauspielern entsteht, die sich bis in die kleinste Geste ausdehnt. Sein Soundtrack rollt der funkelnden Travestieshow einen farbenprächtigen Flickenteppich aus, auf dem die Darsteller agieren und kommt dabei ganz dicht an Shakespeares Motto im 76. Sonett »Den alten Wörter leih ich neue Zier, / Verwende neu, was schon so oft verwandt«.
Die Könige des Abends aber sind die Mimen, und das BE beweist erneut seinen Ruf, das derzeit beste deutschsprachige Schauspielhaus zu sein. Die zierliche, ungemein zerbrechlich wirkende Ruth Glöss als Narr, Jürgen Holtz als Königin Elisabeth und die inzwischen 86jährige, vom Alter schwer gezeichnete Inge Keller als Shakespeare sind die Zentralgestirne, um die sich alles dreht. Georgios Tsivanoglou spielt einen barocken Amor, der seinen Körper nahezu spielerisch und mit hoher Musikalität einsetzt. Christina Drechsler und Anna Graenzner in Hosenrollen, Anke Engelsmann als Sekretärin, die von Shakespeare Sonette entgegen nimmt, Ursula Höpfner-Tabori ihnen allen passen die Rollen, die Wilson ihnen zugedacht hat, wie maßgeschneidert. Eigentlich fehlte nur noch die herrlich schnoddrig-schnarrende Katarina Thalbach, um das Maß voll zu machen.
Wie ein Protestsong entlädt sich dann das berühmte 66. Sonett, das gleich zwei Mal in verschiedenen Formen dargeboten wird und deshalb hier in voller Länge wieder gegeben werden soll: »All dessen müd, nach Rast im Tod ich schrei. / Ich seh es doch: Verdienst muss betteln gehen / Und reinste Treu am Pranger steht dabei / Und kleine Nullen sich im Aufwind blähn / Und Talmi-Ehre hebt man auf den Thron / Und Tugend wird zur Hure frech gemacht / Und wahre Redlichkeit bedeckt mit Hohn / Und Kraft durch lahme Herrschaft umgebracht / Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat / Und Dummheit im Talar Erfahrung checkt / Und schlichte Wahrheit nennt man Einfalt glatt / Und Gutes Schlechtesten die Stiefel leckt. / All dessen müd, möchte ich gestorben sein, / Blieb nicht mein Liebster, wenn ich sterb, allein«.
Persönlicher Nachsatz
Mit Shakespeares Sonetten verbindet mich eine persönliche Leidenschaft. Die Texte wurden nämlich von Martin Flörchinger ins Deutsche übertragen. DDR-Nationalpreisträger Flörchinger spielte unter Langhoff ab 1953 im »Deutschen Theater« und ab 1956 im BE. Seine Übertragung der als unübersetzbar geltenden Sonette Shakespeares durfte ich in meinem damaligen Verlag heraus geben. Das Buch mit allen Sonetten ist unter dem Titel »Und Narren urteil’n über echtes Können« 1996 erschienen und nach Aussagen der führenden Internet-Buchhändler leider nur noch antiquarisch erhältlich. Flörchinger hätte sich gefreut, wäre es ihm vergönnt gewesen, seine Übertragung im BE miterleben zu dürfen. Doch leider kommt auch hier der Ruhm erst, wenn der Dichter schon gegangen ist.
Lebendig begraben
Karfreitag, der Tag des großen christlichen Abschiednehmens, war für mich der richtige Zeitpunkt für eine Stippvisite im Jenseits. Ich sagte »Tschüss« zu dieser Welt und ließ mich lebendig begraben. Nein, ich kletterte in keine Eichenkiste, ließ mich ein Stockwerk tiefer legen und betätige später einen Klingelzug, um prachtvoll auferstehen zu können. Ich schichtete auch kein Feuerholz auf ein Floss, steckte den Nachen in Brand und ließ mich auf dem Wannsee gen untergehende Sonne treiben, um auf diesem spektakulären Weg die Ewigen Jagdgründe der Wikinger zu erreichen. Ich machte es auf meine Weise. Zeitgemäß. Modern. Vollkommen virtuell. 2.0 mäßig eben.
Durch Tod und Auferstehung wird uns Sterblichen erst Sündenvergebung und damit Errettung aus dem Tod und ewiges Leben ermöglicht. Dies ist dank des Internets inzwischen jedermann jederzeit möglich. Wie das funzt? Ganz einfach: Im Internet bieten spezielle Seiten an, sich schon mal vorab ein ruhiges Plätzchen für das Leben danach zu sichern. In der Kunstwelt »Second Life« beispielsweise werden Friedhöfe in jeder Farbe und Form präsentiert.
»Second Afterlife Cemetry« heißen jene Ruhestätten für das »zweite Leben«, für das Leben danach. Dort finden sich die Friedhöfe von morgen: Grabplatten mit interaktiven Bildschirmen, auf denen der Verblichene ein paar Worte spricht, singt, scherzt oder lacht. Videowände, auf denen die teuren Toten wieder lebendig werden und für einen kurzen Moment auferstehen. Monitore, auf denen ein Leben im Zeitraffer abläuft und die wichtigsten Stationen der Verstorbenen im Zeitraffer rekapituliert werden. In einem der Katakomben schlich ein Sensenmann im schwarzen Umhang um mich herum, ohne mich anzurühren. Gleich nebenan nutzte ich die Möglichkeit, in einem gepolsterten Sarg Probe zu liegen und den Deckel für einen kurzen Moment zu schließen. Es war still, gespenstisch, kalt, und ich war mutterseelenallein.
Neben dieser Geisterbahn im »Second Life« gibt es im Web auch diverse virtuelle Friedhöfe. »My Death Space« heißt einer von ihnen, dem Interessenten sogar auf Twitter folgen können. Von den zu Lebzeiten betriebenen Accounts lässt sich dort im Falle des Dahinsiechens alles bequem auf diese Todesfarm umleiten. Damit haben Nachkommen, Verwandte und Freunde jederzeit die Möglichkeit, ihre Heimgegangenen zu besuchen und ihrer zu gedenken.
Ein anderer virtueller Großfriedhof namens »tributes.com« wird von der »Washington Post« betrieben und macht die allgemein zugänglichen Todesdaten der US-Sozialversicherung zugänglich. Soll der teure Verstorbene dort unfangreicher als nur mit nackten Lebensdaten gewürdigt werden, müssen seine Hinterbliebenen dafür blechen. Weitere Einkünfte verspricht man sich von den Besuchern der Site, die mal nachsehen wollen, welche ihrer Bekannten in letzter Zeit das Zeitliche gesegnet haben. Über ein Werbebanner kommt man schon jetzt zu einem Online-Rechner, der die eigene verbleibende Lebenszeit bestimmen soll.
Mir gefallen diese virtuellen Friedhöfe. Sie funktionieren wie das von diversen Religionen versprochene Paradies. Es gibt lediglich einen feinen Unterschied: Der digitale Garten Eden ist bereits zu Lebzeiten geöffnet, und jeder, der dort eines Tages gebettet wird, kann sich seinen Endlagerplatz selbst bestimmt auszusuchen, schmücken und gestalten.
Gleich neben den virtuellen Grabstätten werben Elektronikstores, Lebensmittelmärkte, Casinos, Reiseveranstalter und Vergnügungen aller Art. Meint jemand, das sei pietätlos? Ganz im Gegenteil, es spiegelt das reale Leben wieder! Schaue ich aus dem Fenster, dann sehe ich Supermärkte, Autohäuser und Imbissstuben, die mich mit ihrer penetranten Werbung umzingeln. Warum sollte es auf den Friedhöfen der Zukunft anders sein? Dort spiegelt das virtuelle Leben lediglich das reale Leben wieder.
In früheren Jahrhunderten brauste auch auf den Friedhöfen das pralle Leben. Gaukler, Clowns und Prostituierte hatten im Mittelalter ihre Wirkungsstätte zwischen den Grabsteinen und halfen aktiv, Trauer zu bewältigen. In unserer Zeit ist der Tod zu einem unheimlichen Monster im Hintergrund geworden, das alle fürchten, keiner aber wahrhaben will. Entsprechend schwierig ist der Umgang mit dem Thema Tod: Keiner will gehen, fast alle wollen ewig leben, und das Web 2.0 macht es möglich und schlägt Brücken.
Dabei ist die virtuelle Welt von Morgen längst von der Realität eingeholt worden. Wer heute über einen Gottesacker wandelt und auf einem Grabstein eine eingemeißelte Webadresse findet, der kann mit seinem iPhone direkt zur virtuellen Endlagerstätte surfen und dem Verstorbenen einen Besuch abstatten. Dort erlebt er ihn dann noch einmal in Wort, Bild und Ton. In voller Blüte winkt er ihm vielleicht aus einem Youtube-Filmchen zu, erfreut ihn mit humorigen Versen und lässt ihn in seinen Texten und Veröffentlichungen blättern. Selbstverständlich ist der Link zum Online-Buchhändler weiter aktiv, seine Bücher, Schallplatten und CDs sind lieferbar und können auf Knopfdruck bestellt werden.
In den Niederlanden sind derartige Grabstätten längst Realität. Im Mai 2007 feierte der digitale Grabstein auf dem Friedhof in Rhenen Premiere. Seitdem kommt eine holländische Witwe regelmäßig an das Grab ihres dort ruhenden Ehemannes, um sich auf einem Flatscreen Bilder aus seinem Leben anzuschauen. »Digizerk« nennt der holländische Ingenieur Hendrik Rozema seine Erfindung, die Kombination aus digitalem Bildschirm und Grabstein (niederländisch: »Grafzerk«).
Witterungsbeständige Digisteine mit Solarstrombetrieb werden inzwischen auch in deutschen Landen offeriert. Tischlermeister Carsten Glaser bietet sie auf einer eigenen Homepage an. Wir müssen uns also wohl oder übel darauf einstellen, zumindest virtuell unsterblich zu werden. Von »letzter Ruhe« kann bald keine Rede mehr sein.
Internet-affinen Typen bietet sich der Wechsel zur virtuellen Grabstätte unbedingt an. Denn im digitalen Himmel ist Platz für alle, und ein Vergessen wird unmöglich. Es sei denn, die Serverfarmen gehen in Flammen auf oder ein Provider bricht zusammen. Das wäre dann wohl wirklich das Ende. Sicherheitshalber bleibe ich deshalb noch ein Weilchen lebendig und atme die frische Frühlingsluft.
»Leben ohne Chris« – ein Musical der Neuköllner Oper Berlin
Zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag klaut Chris die Vespa seiner Schwester Birgit, verzichtet auf einen Sturzhelm und rast mit voller Wucht gegen einen Kastanienbaum. Bumm. Peng. Genickbruch. Ein junges Leben endet, ehe es richtig begonnen hat. Chris ist tot. Oder war es genau der richtige Moment, auszusteigen, bevor er alt, grau und von Wehwehchen und Altersgebrechen gepeinigt ins Reich der Toten einziehen wird?
Sein Ableben hat Chris sich jedenfalls anders vorgestellt. Er spürt nichts, und auch die berühmten Sekunden, in denen angeblich der Kurzfilm des Lebens ablaufen soll, fehlen ihm. Stattdessen hält ihn der Engel des Todes an der Hand und begleitet ihn zu seiner früheren Clique, die schockiert trauert.
Doch die Szenen, die vor seinem inneren Auge ablaufen, zeigen ihm die vielen Baustellen, die er hinterlassen hat: seine Freundin Anna fühlt sich nicht als Witwe, sie ist sogar froh, dass Chris tot ist. Immer wieder wurde sie von ihm versetzt und wartete vergeblich, während er in den Armen einer Anderen lag. Sein Bruder Matze weigert sich gar, zur Beerdigung zu kommen. Er wurde von Chris bereits vom Wickeltisch gestoßen und galt in den Augen des älteren Bruders als unfähiges Weichei. Der wiederum hielt sich für unwiderstehlich und spannte ihm kurzfristig die Freundin aus. Und auch das stets zu kurz gekommene Sofakissen Nadja fühlt sich aus dem Siebenten Himmel verstoßen, als sie ahnt, dass der von ihr Verehrte den zentralen Spruch »Kein Leben ohne Dich« nicht (nur) für sie auf die Wand gesprüht hat.
»Leben ohne Chris« von Peter Lund (Text und Regie) und Wolfgang Böhmer (Musik) entstand als weitere Koproduktion der Neuköllner Oper mit dem Studiengang Musical der Universität der Künste Berlin. Acht Monate arbeitete der aktuelle Abschlussjahrgang an dem Musical und landete von der Frage »Gibt es ein Leben nach dem Tod« bei der Frage »Wie war mein Leben davor«. Im Ergebnis entstand ein Stück, das mit enormer Spielfreude vorgetragen, höchst differenziert und sensibel die Situation vieler Heranwachsender beschreibt.
Das ist eine Generation, die zwischen Hoffnungslosigkeit und Scheißegalhaltung hin und her geworfen ist und sich im Suff betäubt. Um sich mit »Wir waren da« als lebendige Leichen zu Wort zu melden, besprühen sie nächtens die von ihren Vätern tags zuvor renovierten Häuserwände. Die intelligenteren unter ihnen, und Chris scheint so einer (gewesen) zu sein, schreien im SMS-Takt per Twitter die Botschaft in den virtuellen Raum, das alles Scheiße, sinnlos und vergebens sei.
Mit »Leben ohne Chris« gelingt es Regisseur Peter Lund auf faszinierende Art, die banale Realität auf die sonst gern weltfremde Musicalbühne zu bringen und damit das Genre zu beleben. Mit höchster Präzision feilt er jede seiner Figuren aus, im Stück gibt es letztlich weder Gewinner noch Verlierer. Auch Obermacker Chris ist nur vordergründig der tolle Hecht, für den er sich hält; im Ergebnis wird er zum Würstchen. Jeder der in einem engmaschigen Beziehungsgeflecht miteinander verbundenen Mitglieder seiner Clique erfährt, dass er sowohl sich selbst wie andere betrügt und sich damit um ein Stück Leben bringt. Insofern wirkt das Musical wie ein Kammerspiel, das wie unter einem Brennglas die einzelnen Charaktere ausarbeitet und seziert.
Zum Klingen gebracht wird das Stück von Hans-Peter Kirchberg, dem Musikalischen Leiter der Neuköllner Oper und Andreas Altenhof. Faszinierend ist es, den Leistungsbeweis der Absolventen des UdK-Studiengangs zu beobachten, die mimisch, stimmlich und tänzerisch brillieren. Unter den möglichen Stars von Morgen ragen Tobias Bieri (Todesengel) und Christopher Brose (Chris) hervor. Im perfekten Zusammenspiel bescheren Dennis Jankowiak (Danny) und Hendrik Schall (Henne) mit einem sturzbesoffenen Pogo den Höhepunkt des Stücks.
Berlin, 1. April 2009. Die Bundesregierung hat ein Pilotprojekt gestartet, mit dem der extreme Rückgang der deutschen Bevölkerung gestoppt werden kann. In Berlin-Steglitz wurde dazu heute die erste einer Reihe leistungsfähiger Samenbanken nach chinesischem Vorbild eingeweiht. Freiwillige Samenspender sind dort herzlich willkommen. HIER geht es weiter →