Am 07. und 08. November 2014 fand in den großzügigen Räumen des Otto-Versand das 8. Barcamp Hamburg statt. Während Fortbildungskonferenzen zum Internet oft exklusive Seminare zu enormen Eintrittspreisen mit zweifelhaftem Ergebnis sind, besteht die Barcamp-Bewegung darauf, Wissen kostenlos zu vermitteln. Entsprechende Un-Konferenzen finden rund um den Globus statt und erfreuen sich wachsender Beliebtheit, zumal sie ohne vorher festgelegte Tagesordnung oder thematische Einengung ablaufen und jeder Teilnehmer eingeladen ist, aus seinem Wissensgebiet vorzutragen.
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Draußen gibt es wenigstens Netz: Teilnehmer der re : publica vor dem Berliner Friedrichstadtpalast. © Foto: W.R. Frieling
Wer bin ich? Woher komme ich? Wo gehen wir heute Abend saufen? Dies waren drei entscheidende Fragen, die sich viele der Teilnehmer der inzwischen fünften Berliner re : publica (13. bis 15. April 2011) stellten.
Rund 3.000 Internetfreaks trafen sich in Berlin, um zum stolzen Eintrittspreis eines Rolling-Stones-Konzerts Teil der re : publica-Welt zu werden. Sie bekamen ein schwarzes Bändchen samt Namensschild um den Hals gehängt, mit dem sie im Friedrichstadtpalast, im Quatsch-Comedy-Club und in der benachbarten Kalkscheune herumstreunen und mehr oder weniger kompetenten Referenten lauschen durften, die ihnen Aspekte des digitalen Lebens nahe bringen wollten.
Sie erlebten dort unter anderem den Auftritt von mittelmäßigen Rednern, deren Beiträge häufig in eine Selbstdarstellung, eine Produktpräsentation oder eine Verkaufsveranstaltung mündeten. Wirklich Neues oder gar Innovatives gab es zwischen den vielen äääh, emmm und öööh kaum.
Die Veranstalter vollbrachten zugleich die Meisterleistung, Themen, die das Publikum wirklich interessierten, in kleinen Räumen zu verstecken. Davor stauten sich bereits lange vor Beginn hunderte Interessierte, von denen nur ein Bruchteil eingelassen werden konnte. Kein Wunder, dass auf Twitter die Mittagspausen als kreativster und angenehmster Teil der Veranstaltung bezeichnet wurden.
In ihrer fünften Wiederholung gerierte die Veranstaltung damit zum Happening der Grüßonkel, nerdisch Meet-and-greet-people genannt. Wer seine Twitter-, Facebook- oder Blog-Freunde einmal persönlich treffen oder auch nur aus der Ferne beäugen wollte, kam voll auf seine Kosten.
Das Publikum wurde von den Organisatoren hinsichtlich des Niveaus und der Erwartungen jedoch unterschätzt. Johnny Häusler, einer der Gründerväter, schaute fassungslos ins Publikum, als seine Frage, ob die Veranstaltung gefalle, mit zahlreichen nach unten gerichteten Daumen beantwortet wurde. Während er noch vermutete, diese Kritik richte sich an die technischen Rahmenbedingungen (das zeitweise funktionierende WLAN war nicht ansatzweise in der Lage, dem Netzverkehr gerecht zu werden, und mitunter brach sogar das gesamte Telefonnetz zusammen), sprach eine Schweizer Teilnehmerin vielen aus dem Herzen, als sie erklärte, ihre Unzufriedenheit sei inhaltlicher Art, sie habe sehr viel mehr erwartet.
Entsprechend kritisiert wurde in auswertenden Kommentaren und Berichten auch die groß angekündigte Gründung des Vereins Digitale Gesellschaft, dem alle gerne gratis zuarbeiten dürfen, deren elf (geheime) Gründungsmitglieder allerdings keine Neuaufnahmen akzeptieren.
Im Ergebnis: Das Format re : publica scheint verbraucht, denn ihre Geschäftsführer haben ihre Hände überall, nur nicht mehr am Puls der Szene. Das hat auch mit dem durch und durch kommerziellen Charakter der Veranstaltung zu tun, bei der immer wieder der Eindruck aufkommt, dass sich eine Handvoll Netzaktivisten gegenseitig Themen, Aufträge und Tantiemen zuspielen.
Vielleicht sollten die Macher der „Konferenz über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft“ auf das Format Barcamp schauen, dass in vielen Städten in den letzten Jahren wachsende Popularität gefunden hat, und das einer Veranstaltung im Stil universitärer Vorlesungen weit überlegen ist: Themen werden direkt aus der Zuhörerschaft geschöpft, damit kann sofort abgeschätzt werden, wie groß das Teilnehmerinteresse an einem Thema ist, daraus resultierend kann wiederum eine entsprechende Raumgröße gewählt werden. Themen und Fragestellungen sind entsprechend aktuell und spannend, zudem sind Barcamps kostenlos zugänglich und damit frei vom Vorwurf, sich bereichern zu wollen
Weitere kritische Rückblicke als Lektüretipps:
Christian Scholz: old school Klüngelgesellschaft e.V.
Malte Steckmeister: re-trospektive: re-infall re-publica
Torsten Maue: #rp11 Ein Schuß in den Ofen
Dörte Giebel: mein rundblickender rückumschlag
Sebastian Cario: re-publica 2011 Das war nichts!
Simon Zeimke: Re-Publica 2011 ein Re-cap
Ein kleiner Einblick in die intensive Arbeit auf dem Hamburger Barcamp
Einen ausführlicheren Erlebnisbericht eines Newbies über das Hamburger Barcamp gibt es H I E R (bitte klicken)
Als meine Großmutter 1952 einen monströsen Schwarzweißfernseher anschaffte, wurde sie zur Sensation des Städtchens. Die Nachbarschaft kam und bestaunte die sündhaft teure Flimmerkiste, von der es seinerzeit gerade mal 4.000 Stück in Deutschland gab. Zu festgelegten Zeiten meldete sich Studio Hamburg und schickte bewegte Bilder in die Wohnstuben. Der Siegeszug eines Massenmediums begann, und meine Oma trug die Fahne voran. Heute würden wir die Gute wohl einen »Early Adopter« nennen und sie damit als Menschen bezeichnen, der technisch die Nase weit vorn hat. HIER geht es weiter →
Vom 9. – 7. Juni fand in Köln das 3. Barcamp statt. Fotos © W. R. Frieling
Twittern, bis der Arzt kommt
Ein Besuch beim Barcamp Köln
Auf einer großen Leinwand lese ich eine Nachricht, die über Twitter online ins Netz gestellt wurde: »Endlich lerne ich @Prinz_Rupi mal persönlich kennen – in der Twitter-Session in Raum 3 beim #bcc3« Prinz Rupi ist mein Nickname im Web und bcc3 steht für BarcampCologne, das bereits zum dritten Mal stattfindet. Der Autor dieser freundlichen Botschaft, ein Herr Sichelputzer, sitzt direkt neben mir. Ich kannte Sichelputzer bislang nur virtuell aus seinen Blogbeiträgen und Tweets. Statt mich jedoch per Handschlag zu begrüßen, wie es unsere Vorväter zu tun pflegten, begrüßt er mich virtuell. Ich antworte ihm auf eben diese Weise und twittere ein Dankeschön in den virtuellen Raum. Hi, Sichelputzer, willkommen im Barcamp!
Andere Teilnehmer der Veranstaltung begrüßen sich, indem sie einen kleinen Plastikknochen aneinander reiben. Das Teil nennt sich Poken und überträgt bei Berührung eine elektronische Visitenkarte, um anschließend freundlich grün blinkend die erfolgreiche Übertragung anzuzeigen. An jeder Ecke wird auf diese geheimnisvolle Weise leidenschaftlich geknutscht. So lernen sich die Leute schnell und nachhaltig kennen. Sie können später auf ihren Webseiten die Daten abgleichen und genauer schauen, wen sie eben getroffen haben. Poken ist eine noch derart exklusiv verbreitete Form der Kontaktaufnahme, dass erst 1.500 Deutsche es kennen und nutzen. Auf dem Barcamp sind mindestens zehn Prozent der User zu finden, denn jeder Zweite trägt einen Poken am Halsband.
In verschiedenen Räumen finden Sessions statt. Dies sind spontan anberaumte dreißigminütige Vorträge und Präsentationen zu den verschiedensten Themen des World Wide Web. Es geht um Applikationen für das iPhone von apple, mit dem hier nahezu jeder Teilnehmer hantiert. Es geht um Programmiersprachen, um das Beseitigen störender Haare bei der Bildbearbeitung mit PhotoShop und um das Twittern im Beruf. SecondLife ist ebenso vertreten wie die Themen Zeitmanagement, alternative Lebensformen und die Frage, wann das Internet stirbt. Zur allgemeinen Erheiterung wird nachmittags Powerpoint-Karaoke aufgeführt. Dabei stellen sich Mutige zur Verfügung, um den Showroom zu erheitern, indem sie aus dem Stehgreif zu einer ihnen unbekannten Präsentation möglichst originell vortragen müssen. Beim Barcamp geschieht, was die Teilnehmer selbst anbieten und hören wollen.
Bei jedem Vortrag sitzen Nerds vor ihren aufgeklappten Laptops und tippen wild hinein. Es wirkt, als machten sie alles andere, als dem jeweiligen Referenten zuzuhören. Der lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, denn tatsächlich saugen die Camper Wissen und verbreiten die Informationen im Netz. Und genau darin liegt ein Sinn des Barcamps: Wissen kostenfrei abzugeben und zu verbreiten.
»Wir arbeiten für das Internet« steht auf dem schwarzen T-Shirt von Franz Patzig, einem der Organisatoren des Camps. Seine Losung ist Programm. 250 Internet-Enthusiasten sind der öffentlichen Einladung gefolgt und haben sich zu einem festen Zeitpunkt für den Event angemeldet. Das Interesse ist enorm, und jede Werbung überflüssig. Innerhalb von knapp 15 Minuten war die Veranstaltung komplett ausgebucht. Wenige Augenblicke später drängelten sich bereits 200 weitere Interessenten auf der Liste, die noch auf einen freien Platz hofften.
Meine Session hat ein ebenso spezielles Thema wie das der anderen Teilnehmer. Mein Fachgebiet ist das digitale Publizieren, das mit den Stichworten Printing-on-demand, Book-on-demand und E-Book beschrieben werden kann. Um den Beamer zu bedienen, fehlt mir ein Stecker. Mein MacBook Pro ist »zu modern« für das Windows-orientierte Netz der gastgebenden Firma QSC. Was tun? Ich setze per Twitter einen Tweet ab und rufe um Hilfe. Mittels des für die Veranstaltung reservierten Hashtags »bcc3« lesen es die anderen auf Twitter. Es dauert keine zehn Minuten und »QSC-Evangelist« Andreas Schmidt drückt mir aus seinem privaten Bestand den erforderlichen Adapter in die Hand. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ist eine selbstverständliche Angelegenheit unter Barcampern.
»Kannst du mir vielleicht mal dieses Tool erklären«, ist eine Frage an einen wildfremden Menschen, die auf dem Barcamp stets freundlich beantwortet wird. Jeder hilft jedem gern und gibt ohne Murren sein Wissen preis. Den Teilnehmern ist bewusst, dass sich der klassische Umgang mit Herrschaftswissen nur knacken lässt, wenn das Wissensmonopol Weniger aufgelöst wird und Informationen sozialisiert werden. In diesem Sinne haben Barcamper eine beinahe frühkommunistische Einstellung, was den Umgang und die Verbreitung von Informationen angeht. Einige von ihnen arbeiten deshalb auch bei Wikipedia mit und schreiben das kostenfreie Internet-Lexikon fort, andere informieren über ihre teils hoch spezialisierten Blogs.
Barcamper verstehen sich als »Early Adopters«, als Leute, die technisch die Nase ganz weit vorn haben und bereits weitgehend digital leben und umgehen. Wie weit sie die Nase vorn haben, wird deutlich, wenn es um eine Auseinandersetzung mit der aktuell herrschenden Politikkaste geht. Wird in den Regierungsdezernaten das Internet als Teufelswerk angesehen, das unbedingt kontrolliert und unter staatliche Aufsicht gestellt werden muss, um Chinas »himmlischen Frieden« auch über deutsche Lande zu verbreiten, stehen Barcamper auf der entgegen gesetzten Seite. Es gibt derzeit wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem das Aufeinanderprallen der Moderne auf gestriges Denken deutlicher wird als im Bereich des Internets. Internet-User verspotten die nach dem Zensor rufende amtierende Familienministerin Ursula von der Leyen als »Zensursula«. Sie schütteln den Kopf über eine Bundeskanzlerin, die öffentlich fragt, was denn ein »Browser« sei und verlachen Abgeordnete, die sich über moderne Kommunikationsformen als »Tralafiti« mokieren.
Während der Mittagspause, in dem jeder Barcamper neben Teller, Messer und Gabel auch sein Laptop traktiert, sitzt an einem Tisch ein schwarz gekleideter Trupp junger Männer, die in rasender Eile Befehlszeilen in ihre Rechner tippen und sich dabei offenbar köstlich amüsieren. Einige dieser Barcamper fühlen sich dem ChaosComputerClub zugehörig, der immer wieder durch konkrete Aktionen im Web von sich reden macht. Und auch die durchaus beachtenswerten Stimmengewinne der Piratenpartei, die am gleichen Tag bei den Europawahlen kandidiert, zeigt, dass Barcamper keine unpolitischen Gesellen sind, die sich in die Schmuddelecke drängen lassen.
Auf dem Heimweg frage ich am Ausgang in die Runde, ob jemand zufällig wisse, wo die Gellertstraße in Köln sei. Wi e auf Kommando zücken 25 Barcamper ihr iPhone und weisen mit dank GoogleMaps den Weg. Als ich kurz vor meinem Rückflug nach Berlin noch das dem Mythos der guten, alten Dinge huldigende Warenhaus Manufactum in der Innenstadt besuche, kauft neben mir ein Mann ein sündhaft teures Radio, bei dem Strom mit Kurbelbetrieb erzeugt wird. Auf meine Frage, warum er denn nicht einfach sein Handy zum Radiohören nehme, schaut er mich irritiert an: »Ein Handy habe ich nicht, und ich höre viel Radio«. Barcamp ist insofern auch ein echtes Kontrastprogramm.