Das Drama von Duisburg schlägt seit den grausigen Ereignissen vom 24. Juli 2010 im Netz enorme Wellen: Nachrichtensender, Blogs, Foren, YouTube und Twitter spüren ein deutlich erhöhtes Kommentaraufkommen zum Thema. Das Bedürfnis schafft sich ein Organ, und dessen Name hat acht Buchstaben: I – n – t – e – r – n – e – t. Tausende beschäftigen sich auf allen Kanälen mit dem grausigen Ende der Loveparade.
Jeder Einzelne hat seine Form des Umgangs mit solch schrecklichen Nachrichten wie jenen von mittlerweile 21 Toten und über 500 Verletzten in Duisburg. Doch kaum einer, der Betroffenheit zeigen möchte, zieht sich in sein inneres Schneckenhaus zurück. Es wird der Austausch, das Gespräch, das öffentliche Nachdenken und Gedenken gesucht. So ist jedenfalls mein Eindruck nach einer weiten Wanderung durchs Web.
Während ein erkennbar großer Teil der Gemeinde ihrer individuellen Trauer Ausdruck verleiht und Mitleidsgrüße sendet, beschäftigt sich eine deutliche Zahl von Bloggern und Netzjournalisten grundsätzlich mit den aktuellen Geschehnissen. Augenzeugen schildern ihre Erlebnisse, hunderte Fotos und Videos von der Schreckensstätte werden publiziert, Wissenschaftsblogger befassen sich intensiv aus ihren Blickwinkeln mit dem Thema. Sie alle machten die Loveparade bei aller Tragik zum künftigen Vorzeigemodell für aktuellen Online-Journalismus und die Überlegenheit digitaler Medien gegenüber der Holzpresse.
Die anfangs mit hohem Aufwand zusammengestellte Parade begann 1989 als farbenfroher und ausgelassener Karnevalsumzug in West-Berlin, dem von den Gehwegen aus zugeschaut werden konnte, wenn man nicht auf und um die geschmückten Fahrzeuge tanzen wollte. Aufgrund der nach dem Mauerfall auch aus dem Umland hereinbrechenden Menschenmengen, die an einer Massenorgie teilnehmen wollten, war bald vom Ursprungsgedanken nichts mehr sichtbar.
Kamen im ersten Jahr maximal 200 Leute, wurde die Loveparade inzwischen mit 1.600.000 Besuchern zur größten Tanzveranstaltung der Welt aufgeblasen.
Bei einer Veranstaltung dieser Größe sind viele satte Millionen zu verdienen, und die ausführenden Städte bekommen zusätzlich zu ihren Einnahmen kostenlose Megawerbung in allen Medien. Von der Stadtverwaltung über den Veranstalter bis hin zum einzelnen Bierverkäufer schauten alle in hungriger Vorfreude auf die zu erwartenden Menschenmassen. BILD, Oliver Pocher und auch der kleinste Drogendealer rieben sich erwartungsvoll die Hände und sperrten ihre Hosentaschen weit auf: Taschen, an denen jetzt Blut klebt!
Es gab im Vorfeld der Veranstaltung hunderte öffentliche Warnungen, vor allem in lokalen und überregionalen Leserbriefen, die sich im Nachhinein wie düstere Vorhersagen lesen. Außerdem rechneten die Verantwortlichen im Vorfeld mit weit mehr als eine Million Besuchern. Dennoch wählten sie nach der Devise »No risc, no fun« eine Örtlichkeit, die in Bezug auf die Erwartung knapp oberhalb der Größe eines Hühnerstalls lag. Waren tatsächlich, wie einige Blogger vermuten, Tote als »Kollateralschaden« fest mit eingeplant?
Ob explodierende Ölinseln oder Massenaufmärsche: Die großen Verdiener nehmen sich allesamt wenig. Sie missachten Warnungen und schalten Stopp-Signale aus, um ihre Idee durchzusetzen. Nackte Gier bestimmt ihr Handeln und damit auch das Geschehen. Nun hat es mal richtig gekracht, und das ist weit heftiger als ein kleiner Betriebsunfall Das ist eine der wesentlichen Erkenntnisse, die sich aus dem Drama von Duisburg ziehen lässt.
Sir Richard von Gigantikow aka Reinhard Zabka: der letzte Dadaist im wilden Osten • Foto: Ruprecht Frieling
Die lange Odyssee des Lügenmuseums
Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde das Lügenmuseum im brandenburgischen Gantikow zum 22. Juli 2010 fristlos gekündigt. Das Gutshaus, in dem das Museum 20 Jahre lang residierte, musste nach einer Fristverlängerung bis zum 31. Oktober 2010 besenrein geräumt werden. Das von dem Künstler Reinhard Zabka geführte Museum hatte sich mit seinen ungewöhnlichen Präsentationen und Aktionen in den letzten Jahren zu einem Publikumsmagneten in der Region entwickelt. Zwanzig Jahren lang konnten die Besucher erleben, wie Zabka an diesem Lügenmuseum arbeitete und seinem Leitspruch folgte: Ziele nach dem Mond, selbst wenn du ihn verpasst, wirst du zwischen den Sternen landen. Inzwischen hat das Lügenmuseum einen neuen Standort in der Kötzschenbrodaer Strasse 39, 01445 Radebeul, gefunden. Aber auch hier wollen die Kulturpolitiker lieber »repräsentative« Kunst statt einen Ort ungestümer Kreativität. Die Odyssee scheint damit noch nicht zu Ende …
Die Ostprignitz nordwestlich von Berlin birgt Namen aus der Schatzkarte von Theodor Fontane: Die Ortschaft Ribbeck findet sich dort, Sitz derer von Ribbeck und heute noch Standort des viel zitierten Birnbaums. Nachfolger des berühmten Landadeligen sind wieder in den verschlafenen Flecken gezogen und vertreiben Birnenschnaps. Schloss Rheinsberg, das in der DDR-Zeit verdiente Ausgebrannte des Volkes beherbergte, übte schon Anziehungskraft auf Kurt Tucholsky aus. Heute laden über 50 Festsäle und Kabinette, darunter der Muschelsaal, zu einer Reise in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Und in Kampehl lockt seit Jahrzehnten eine der unheimlichsten Mumien der Welt, der mumifizierte Ritter Kahlbutz mit seiner schrägen Geschichte. Damit ist das Potpourri an bekannten Sehenswürdigkeiten allerdings bereits weitgehend erschöpft. HIER geht es weiter →
Leibesübungen schreckten mich schon in jungen Jahren ab. Lieber bewege ich mich genussvoll im Schildkrötentempo und reime Sport auf Mord. Denn damit lässt sich bequem leben. Fatal und mitunter peinlich ist jedoch, wenn ich Namen, Zahlen und Ereignisse verquirle und vergesse. Das sind die grauen Schatten des Älterwerdens. Besonders eingefleischte Sportfans reagieren komisch, wenn ich unvorsichtig genug bin, an ihren Fachsimpeleien teilzunehmen und dabei Müll erzähle.
Um mich in bewegten Fußballzeiten nicht als unfähigen Trottel dastehen zu lassen, schult die Frau an meiner Seite mein Namensgedächtnis. Mit ausgefeilten Mitteln und Methoden der weiblichen Pädagogik versucht sie, mich anzutreiben und meine kleinen grauen Zellen zu trainieren. Dabei nutzt sie aktuelle Ereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft.
Leider bin ich an diesem Thema kaum interessiert. Entsprechend freudlos leiere ich Namen von Fußballern der deutschen Nationalmannschaft herunter und platze fast vor Stolz, dass ich wenigstens einige auf die Reihe bekomme: „Klose – Mertesacker – Schweinsteiger“.
Bastian Schweinsteiger ist dabei mein besonderer Liebling, weil ich mir seinen Namen leicht merken kann. Andere Spieler tragen deutsche Allerweltsnamen: „Friedrich – – – Müller“, oder war es Schneider, der Mittelfeldspieler der WM 2006? Egal. Hauptsache, Müller stimmt.
Uff! Fünf Namen habe ich bereits zusammen. Ich finde das viel und hoffe, mir diese Spieler ein paar Tage lang, wenigstens bis zum Ende der Meisterschaft, merken zu können. Doch statt des erwarteten Lobs und herzlicher Liebkosung hagelt es Tadel: „Das sind erst fünf Namen. Gib dir mehr Mühe!“
Podolski läuft mir noch über den geistigen Rasen, dann ist endgültig Schluss. Jetzt sind es immerhin schon sechs Namen. Doch da winkt ein Licht am Ende des Tunnels: die Eselsbrücke als geniale Gedankenstütze der Spracharchitektur hilft weiter. „Wie heißt der Kleine, der hinkt“, lockt die Trainerin, und spontan fällt mir ein weiterer Name ein: „Das ist Lahm! Der Mann heißt Lahm. Philipp Lahm!“
Auf diese Art und Weise lerne ich mühsam die Spielernamen der deutschen Elf auswendig. Damit bin ich gewappnet, falls mich jemand aktuell auf die Weltmeisterschaft anspricht. Das scheint mir allerdings schwer vorstellbar, denn das Wenige, was ich vom Fußball weiß, ist in dürren Worten zusammengefasst: Zehn Leute jagen einem Lederball hinterher und rempeln dabei gegnerische Spieler, bringen sie zu Fall, behindern, sperren und foulen sie. Ein elfter Kerl steht in einer Art großer Korbfalle, rennt bullig hin und her, und versucht auf diese Weise zu verhindern, dass der Ball in sein Netz rollt. Hält er das Leder nicht, brüllen alle Zuschauer „Tooooor!“, tröten, ratschen, hupen, schwenken Nationalflaggen und verschütten Bier.
Natürlich weiß ich, dass jeder einzelne Spieler sehr viel mehr kann als Salto schlagen und Gras fressen: neben dem Gedächtnistraining unterrichtet mich meine Traumzauberfee in Strategie und Taktik, und ich verstehe bereits ansatzweise, welchen Mustern eine Mannschaft folgt. Wenn es so weiter geht, ziehe ich ernsthaft in Erwägung, zum Public Viewing oder auf eine Fanmeile zu gehen. Ich kenne schließlich die Namen der Hauptdarsteller, und das ist mehr, als ich von mancher Theateraufführung, die ich besucht habe, sagen kann.
Ausgesprochen gemein finde ich in diesem Zusammenhang, dass wichtige Spieler ständig ausgewechselt werden. Als ich auf die Frage nach dem Torhüter wie aus der Pistole geschossen „Oliver Kahn“ sage, trifft mich ein wehmütiges Lächeln. „Den hast du vor vier Jahren auswendig gelernt, aber der spielt nicht mehr mit.“ Dumm gelaufen. „Dann ist es vielleicht Lehmann“? Abseits! Herr Lehmann hat sich zur Ruhe gesetzt.
Ich blinzele in den Fernseher und sehe ein gelbes Männlein im Tor, das sich unerschrocken den Bällen der gegnerischen Mannschaft entgegen wirft. Kahn ist das nicht, der sitzt in einem Glaskasten und schaut zu. Das ist ein für mich Neuer, und er heißt zu allem Überfluss genau so: Manuel Neuer!
Als die Stadionkamera ins Publikum schwenkt, kommt mir ein Gesicht bekannt vor. „Ballack, da sitzt Ballack,“ trompete ich stolz. Seinen Namen hatte ich mir bei der letzten WM eingetrichtert, um glänzen zu können; leider spielt der Mann diesmal nicht mit. Ein Spieler namens Boateng hat ihm übel mitgespielt und seinen Knöchel lädiert. Boateng? Dieser geheimnisvolle Name taucht gleich in zwei WM-Mannschaften auf! Wie soll ich die Boateng Brothers jemals auseinander halten, und wer von ihnen tat Ballack Böses?
Muss ich mir überhaupt Namen wie „Boateng“ und „Cacau“ merken? Lohnt sich das? Bis zur nächsten WM in vier Jahren werden die doch bestimmt ebenfalls ausgewechselt, und dann stehe ich mit meinem Halbwissen so dumm da wie zuvor. Nur Miroslav Klose betrachte ich in diesem Zusammenhang als alten Kumpan, der mir beständig die Treue hält.
Für mein schlechtes Gedächtnis wäre es jedenfalls optimal, die Spieler nur noch langfristig einzusetzen. Dann könnte ich mit Namen punkten und würde locker elf zusammen bekommen. Nützlich wäre auch, wenn die Spieler nicht beliebig austauschbar wären sondern eigene Persönlichkeiten entwickelten. Ein lustiger Kerl wie der aus dem damaligen Jugoslawien stammende Torwart Radi Radenkovic ist mir allein deshalb in Erinnerung geblieben, weil er mit seinem Schlager „Bin i Radi, bin i König“ meine Jugend begleitete.
Auch der seinerzeit umjubelte Mittelstürmer Uwe Seeler und Brasiliens Fußballgott Pelé, der immerhin dreimal Weltmeister war, haben sich in meine Festplatte eingebrannt, und ich erkenne Ex-Superstar Diego Maradona. Die „Hand Gottes“ steht zwar inzwischen gebrochen am Rand und würde am liebsten selbst aufs Spielfeld laufen, aber ich erinnere seinen Namen. So freue ich mich, dass mein durchlöchertes Gedächtnis wenigstens ein paar wichtige Fußballernamen ausspuckt, darunter den Spieler, der (namentlich) hinkt.
Im Nachtschlaf wälze ich mich schweißnass in weichen Kissen und fiebere von König Fußball und seinen Mannen. Da hinkt ein kleiner Mann im schwarzen Trikot mit seinem Ball direkt auf mich zu. Ist das Seeler, ist es Pelé oder gar Maradona? Himmel, wer ist denn dieser blonde Junge? Schon kommt er näher, aus Traumnebeln löst sich ein Name, und es sprudelt aus den tiefsten Katakomben meines Erinnerungsvermögens: „Das ist Lahm. Lahm! Phillip Lahm!!“