Die Lektüre einer einzigen Ausgabe der »Süddeutschen Zeitung«, deren Vertrieb mich mit einem Schnupper-Abo verwöhnt, hat ausgereicht, mich vollends zu überzeugen und alle aktuellen Ängste zu verjagen, denn: »Von Rezession kann keine Rede sein
«, steht dort schwarz auf weiß.
Wen stört es, wenn Banken crashen, Versicherungen den Löffel abgeben und die Ersparnisse von Millionen Menschen verbrannt werden? Die Befehlshaber an den Gelddruckmaschinen lassen ein paar Milliarden neuer Scheinchen drucken, und alle Probleme sind behoben.
Die Nebenwirkungen dieser Therapie, die enorme Geldentwertung, die damit einher gehende Inflation sowie die im Hintergrund dämmernde nächste Weltwirtschaftskrise, werden von unseren großen Steuermännern mit ihrem »Instrumentarium« der Geldpolitik, gekonnt umschifft. Falls doch mal etwas daneben geht, dann haftet das Staatsvolk.
Ergo ist alles klar auf der Andrea Doria, denn so versichert die SZ: »Der Kapitalismus lebt«.
Wäre da nicht Onkel Dagobert mit seinem untrüglichen Instinkt, der meint: »Mein Geld riecht nach Schimmel« …
David Foster Wallace, einer der besten jungen US-Schriftsteller, ist tot in seinem Haus im kalifornischen Claremont aufgefunden worden. Nach Behördenangaben fand Wallaces Frau den 46-jährigen erhängt vor, als sie nach Hause kam. HIER geht es weiter →
Klassik mit Schmiss: Mambo von Leonard Bernstein (1918-1990) aus dem Musical West Side Story
Wird ein erst 27 Jahre junger Dirigent von der Großen der Szene wie Sir Simon Rattle, Claudio Abbado und Daniel Barenboim in den höchsten Tönen gelobt und zur Mitarbeit gebeten, dann scheint ein Stern am Klassikhimmel aufzugehen. Und wer Gustavo Dudamel live erlebt, der spürt das ungeheure Temperament, das dieser venezoelanische Musiker versprüht.
In einem Konzert in der Berliner Philharmonie erbrachte Dudamel soeben erneut den Beweis, dass klassische Musik Spaß machen kann und deutliche Spuren im Zuhörer hinterlässt. Seine fast 200 Musiker, das Simón Bolívar Orchestra of Venezuela, spielen mit derartig erkennbar großer Freude und Hingabe, dass der Zuhörer gebannt den Atem anhält.
Dabei sind es durchaus schwierige Stücke, die der blutjunge Maestro in Berlin präsentierte: Strawinskys Skandalstück, die Ballettmusik »Le sacre du printemps«, wird in Dudamels Händen zu einem Feuerwerk, das im Tempo einer heran brausenden Elefantenherde in den Himmel steigt. Schon vom ersten Ton des extrem hohen Fagottsolos an erschließt der Dirigent dem Zuhörer die zum Bereich der Moderne zählende Musik.
Auch bei Tschaikowskys Symphonie Nr. 5 e-moll hält er sein riesenhaftes Orchester präzis in Zaum. Dabei steht die Spielfreude jedem einzelnen Mitwirkenden im Gesicht geschrieben. Endgültig explodiert die musikalische Leidenschaft aber bei den Zugaben, und dazu zählt Leonard Bernsteins Mambo aus »West Side Story«. Außer Rand und Band (und dennoch präzis bis in i-Tüpfelchen) wirbeln die Streicher ihre Instrumente durch die Luft, hüpfen die Bläser auf und nieder, jonglieren die Schlagwerker mit den Stöcken, bis schließlich alle von den Stühlen springen, sich spielend um die eigenen Achsen drehen und lachend umher laufen.
Die »Deutsche Grammophon«, bei der Dudamel unter Vertrag steht, hat jetzt eine neue CD unter dem Titel »Fiesta« vorgelegt, bei der das Schwergewicht auf lateinamerikanischen Stücken liegt. Für Dudamel ist der Schritt zwischen Beethoven und den Komponisten seiner Heimat kaum größer als ein Tanzschritt. »Ich begann schon zu tanzen, als ich noch ganz klein war«, berichtet der 27jährige, »Tanzen gehört einfach zu unserer Kultur es liegt uns im Blut.«
Wer sich die Schönheit lateinamerikanischer Klassik erschließen möchte, ist mit der CD gut beraten. Die Aufnahme ist wie eine Party, wie eine Fiesta, und sie sprüht vor Energie und Bewegung.
Gustavo Dudamel »Fiesta«
Simón Bolívar Orchestra of Venezuela
Werke von Bernstein, Carreño, Castellanos, Estévez, Ginastera, Márquez, Revueltas, Romero
Deutsche Grammophon 2008
Danza final (Malambo) von Alberto Ginastera (19161983) findet sich ebenfalls auf der CD
»Le tour du monde en quatre-vingts jours«, »Reise um die Erde in 80 Tagen« nannte Jules Verne seinen 1873 veröffentlichten Erfolgsroman. Darin beschreibt er die höchst abenteuerliche Weltreise eines reichen englischen Exzentrikers namens Phileas Fogg sowie seinen Dieners Passepartout. Der Journalist Helge Timmerberg reist 135 Jahre nach Vernes großem Wurf ebenfalls »In 80 Tagen um die Welt«, wobei ihm wesentlich schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen als dem leidenschaftlichen Whist-Spieler Phileas Fogg. Während Fogg noch sein halbes Vermögen in bar mit sich führte, wurde Timmerbergs Reise durch ein gut gefülltes Spesenkonto abgefedert, das weltweit verfügbar ist.
Der Autor reist per ICE mit 230 km/h von Berlin nach München, wo er in einer Wohnzimmer-Kneipe im Bahnhofsviertel landet, in der sich einsame Männer beim Weizen trösten. Er fährt weiter nach Venedig und begegnet bereits am Bahnhof einer Prozession von abertausend Touristen mit Masken, spitzen Nasen und schwarzen Umhängen. Venedig feiert Karneval, und wer so bescheuert ist, ausgerechnet in diesem Trubel den Canale Grande sehen zu wollen, der zahlt für das einzige freie Zimmer im »Marco Polo« eben 330 Euronen, selbstverständlich ohne Frühstück. Irgendwie fällt dem Weltreisenden auch hier nichts Besseres ein, als die nächste Trinkhalle aufzusuchen, um sich die Kante zu geben. Ihm geht es dabei um »das disziplinierte, konzentrierte, mathematische Besaufen«.
Die dritte Nacht seiner Weltreise verbringt Timmerberg in Triest, und raten Sie mal wo er landet? Na klar, in einem kleinen Weinlokal, an den Stehtischen für Raucher. Die Welt in achtzig Tagen zu umreisen verlangt nicht, wie zu Jules Vernes Zeiten, permanentes, pausenloses und zielstrebiges Voraneilen. Heute braucht es das glatte Gegenteil: Trinkfestigkeit, Drogenerfahrung und ein gewisses Klebenbleiben, eine gewisse Unentschlossenheit. Als unentschlossen erweist sich der Autor immer wieder, dies ist sein deutlichster Charakterzug. Später, denn hier soll nicht jede Station erwähnt werden, als er in Bombay, das heute Mumbai heißt, weilt, überlegt er beispielsweise, mit welchem Verkehrsmittel er sich weiter bewegen will. Jules Verne ließ seinen Helden mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta reisen, und der hat während dieser Fahrt die Frau seines Lebens getroffen. Die Frau des Lebens, sinniert Timmerberg, ist keine schlechte Vision, aber dafür zweiunddreißig Stunden mit dem indischen Zug?
Nun geht eine Weltreise in heutiger Zeit dank moderner Verkehrsmittel sehr viel unkomplizierter als anno Verne. Und dennoch hat Helge immer wieder Entscheidungsschwierigkeiten, die sein Wesen auszumachen scheinen. Der Reisende, der noch die Nachwehen der Hippiezeit in sich spürt, wendet sich an einen Guru um Rat. Schließlich bereiste Timmerberg bereits in der Blütezeit der Gurus Indien und kennt sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet aus. Jedoch fehlt die Antwort des Meisters nicht zur Zufriedenheit des Reisenden aus, denn letztlich empfiehlt er ihm, eine Münze zu werfen. So kann es Weltreisenden ergehen! – In dem Augenblick fällt dem Rezensenten ein, dass er selbst eine solche Entscheidermünze in seinem Schreibtisch in Griffnähe hat. Diese Münze, ein Geschenk einstiger Kollegen, sollte ihm helfen, grundsätzliche Entscheidungen seines Lebens zu fällen, da er zu jener Spezies gehört, und hier entsteht eine Gemeinsamkeit mit Timmerberg, die unfähig sind, sich zu entschließen.
Ansonsten erweist sich Timmerberg als arrivierter Althippie, der mit gefülltem Säckel nicht mehr in Hauseingängen oder der Bahnhofsmission kampieren und per Anhalter durch die Galaxis trampen muss. Er genießt den Luxus der Sterne-Hotels und lässt sich vor Ort gern mit dem Taxi chauffieren. Bedrängt ihn ausnahmsweise das nackte Leben, wie beispielsweise in Shanghai in Gestalt besonders aggressiver Bettler, rettet er sich vor dem Mob in eine Droschke und braust davon. Sozialkritik ist nicht das Thema des Buches.
Immerhin schafft es der Autor, seiner Weltreise eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, die den Leser in Bann schlägt. Er unterstützt dies durch eine flotte Sprache sowie milieudichte Schilderungen über Drogenexzesse. Hier spürt der Leser, dass Timmerberg life dabei war und sein Wagemut ihn bevorzugt ins Land der Kopfreisen führte. Er kennt die Illusionsromantik des Reisens, er predigt Toleranz und fühlt sich schließlich doch am wohlsten dort, wo er startete und wieder ankommt: im multikulturell gefärbten Berlin.
»In 80 Tagen um die Welt« ist lesenswert für den gestandenen Reisenden, der sich an dies oder jenes erinnern möchte. Es ist kein Reiseführer, und es sucht auch nicht Erkenntnisse in Slums und Absteigen, wie sie von einem Journalisten vielleicht erwartet werden. Das Buch ist amüsant, und der Autor ist fraglos weit herum gekommen. Die Freude am Reisen, mit Ausnahme des Abstechers nach Mexiko-Stadt, scheint ihm dabei jedoch mit den Jahren abhanden gekommen.
Helge Timmerberg: In 80 Tagen um die Welt
Rowohlt Berlin 2008
ISBN 9783871345937
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