Die Gedanken sind frei: Die entführten Kinder Bethlehems werden am Spreeufer geschlachtet
Dem zeitgenössischen Publikum wird bisweilen hart mitgespielt, doch es schluckt dankbar alles, denn es erhofft stets höheren Kunstgewinn. Darsteller bohren sich wechselseitig in der Nase und futtern ihre Popel, stinkende Socken werden durch dreckige Zehen gezogen und anschließend genüsslich beschnüffelt, Staatsopernsänger übergeben sich in den Orchestergraben oder simulieren epileptische Anfälle, und mangels geeigneter Geschlechtspartner wird bisweilen mit einem Brot kopuliert.
Eigentlich, so sollte man meinen, hat ein erfahrener Theatergänger alles durch, und es gibt kaum noch Steigerung. Insofern besucht er Bachs Weihnachtsoratorium in der vierstündigen Version von Novoflot im Berliner Radialsystem trotz kollegialer Warnungen ohne Arg und freut sich auf etwas einmalig Kunstsinniges. Fördert das Radialsystem doch nach eigenem Bekunden besonders »innovative künstlerische Projekte«.
Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach ist ein für die sechs Feiertage vor Weihnachten komponierte mehrstimmige Vokalmusik, die wesentlich aus Kantaten und Rezitativen besteht und in Jahresendstimmung von nahezu jeder Weihnachtslieder-CD »jauchzet, frohlocket«. In dem Oratorium wird die biblische Geschichte erzählt, und die Freude über die Menschwerdung Christi als Kern der christlichen Dogmatik beschworen. Auch für diejenigen Kunstfreunde, die wenig mit Gottglauben und Götzenkult anfangen können, gilt das Werk als makelloses Musikkunstwerk.
Doch wahre Kunst entfaltet sich wohl erst, wenn eine Komposition »im inszenatorischen Zugriff wie im Erlebnis ihrer Aufführung einem allgemeinen Gebrauch zurückgegeben« wird, um »ihren Gebrauchswert zuungunsten ihres künstlich-künstlerischen Mehrwerts entfalten« zu können. So begründet das Ensemble Novoflot ihre Version des »Weihnachtsoratoriums« und teilt dazu die Besucher in Gruppen ein, die unter der Devise »Geht hin und erkundet das Radialsystem« durch das ehemalige Wasserpumpenwerk am Spreeufer irren.
In mehreren Räumen und Etagen wird das gesamte Werk mit allen sechs Kantaten in einer eigenen Fassung für Sänger, Schauspieler, großen gemischten Chor, Knabenchor, Experimentalensemble und Orchester aufgeführt. Beteiligt sind mehr als 120 Künstler – das Architekturbüro Graft, die Free-Jazz-Formation Bauer 4, das Ensemble Kaleidoskop, der Karl Forster Chor und der Knabenchor Berlin. Großzügige Mittel der Bundeskulturstiftung und des eigentlich bankrotten Berliner Senats ermöglichen den Aufwand.
Eine Hundertschaft Zuschauer stapft durch ein enges Treppenhaus erst einmal auf die Dachterrasse des Radialsystems, um dort bei minus 13 Grad ein von der Decke hängendes Kleid zu bewundern. Dazu skandiert ein Kinderchor im Sprechfugato Heilsbotschaften. Immer wieder wird eines der Kinder gegriffen und davon geschleppt. Die Entführer sind allerdings keine bibbernden Zuschauer, es sind wohl Akteure, denn wenig später fährt auf der anderen Seite des Spreeufers ein Fahrzeug auf eine Industriebrache, Gestalten bewegen sich im Scheinwerferlicht, und jedem Besucher wird schlagartig klar: das sind natürlich die von Herodes entführten Kinder Bethlehems, die dort geschlachtet werden!
Erlösend öffnet sich eine Eisentür, und die Zuschauer drängen und rücken sich wieder in das Stiegenhaus, um einen nächsten Raum aufsuchen zu dürfen. Dort ist es stockfinster, nach eisigen Schweigeminuten stapelt ein Kinderdarsteller Pappkisten hinter einer schwarzen Zeltplane, während ein zweiter an einem Keyboard spielt. Der Kenner ahnt, dass es sich dabei um Versatzstücke aus Bachs Kantaten handelt, die von den Knaben in einer Art Kammerspiel verhackstückt werden. Das ist beachtlich!
Hungrig nach weiteren Kantaten lässt sich der Musikfreund in den nächsten Raum drängen. Hier erlebt er ein Highlight: in einer Art Betriebsweihnachtsfeier werden nicht nur imposante Folien über die Akkumulation des Kapitals an die Wand projiziert, es wird auch gesungen und musiziert. Für einen kurzen Augenblick scheint Bach zu Wort zu kommen, dann vertauschen die Sänger ihre Notenblätter und zerhacken die Rezitative. Ein Bass (Nils Cooper) bricht im Publikum zusammen, später spielt er mit lackierten Matroschka-Püppchen; der Tenor (Steffen Doberauer) bekommt einen Plüschteddy geschenkt und freut sich darüber; und die Sopranistin Bini Lee-Zauner wird mit einem Hackebeil beehrt, das sie bedeutungsschwanger schwingt.
Und wieder werden die mit derlei Symbolik beladenen Gäste der Inszenierung weiter gescheucht, dieses Mal stolpern sie in die Finsternis des Saals im Erdgeschoss. Hier gibt es praktische Plastikmülleimer, die umgestülpt als Hocker Verwendung finden, zwar sind gerade erst zwei der insgesamt vier Stunden vergangen, aber ein gelegentliches Ruhen, um den Genuss voll aufnehmen zu können, tut gut. Nach einer Weile reißt eine Schauspielerin das tiefe Schweigen auf, indem sie inhaltsschwere Texte skandiert: »Ich habe Scheiße in den Augen / Ich habe Scheiße im Herzen / Gott läuft aus / lacht / strahlt «.
Bald sorgt ein Free-Jazz-Posaunist mit schrägem Tröten für Abwechslung und ein hörbares Aufatmen des Publikums begrüßt eine Reihe von Akteuren, die den Saal betreten und mit Stirnlampen ein fahles Licht in die Vorgänge bringen. Lauthals singen sie und stürzen schon mit Kantaten aufeinander los, denn jede Gruppe singt eine eigene. Munter purzeln Töne und Melodien im Sängerkrieg der Weihnachtsboten als fallen Geschenke vom Himmel
Leider schon Pause! Pause, in der ein biblisches Linsengericht zur Stärkung gereicht wird, als solle dem Besucher das Recht auf Genuss damit abgekauft werden. Dann folgen die Zuschauer, die bislang noch nicht die Flucht in die Berliner Nacht gewagt haben, den Platzanweiserinnen zum zweiten Teil in die Halle des alten Pumpenwerks. Hier wird nun endlich frohlockt und gejauchzt, denn das Orchester samt der Chöre nehmen sich erkennbar der ersten drei Bach-Kantaten an. Doch bald wird auch hier mit der Illusion aufgeräumt, es gäbe nun als Entschädigung für stundenlanges Irren und Wirren Bach pur.
Das Bühnenbild als Kletterburg
Ein wildes Stühlerücken findet statt, und das Bühnenbild des durch seine Tätigkeit für den Schauspieler Brad Pitt bekannt gewordenen Architekturbüros Graft wird umher geschoben. Dabei handelt es sich um weiße Versatzstücke, die zusammengesetzt vielleicht die Anmutung einer Eisscholle ergeben sollen, jedenfalls rutschen die Sänger darauf munter umher, es wird immerhin ein Weihnachtsoratorium gegeben, das passt also jahreszeitlich ganz gut.
Kinderdarsteller poltern umher, sie versuchen sich in einer Art Breakdance-Parodie zu Bach; ein Flügel wird ins Bild geschoben, darüber klappt ein Pianist zusammen, zwei Posaunisten und ein Kontrabass begleiten seinen Zusammenbruch mit Free-Jazz-Kaskaden, die auch den letzten Schläfer wecken und aus dem Saal vertreiben.
Im Ergebnis wurde Bachs »Weihnachtsoratorium« zum Abgewöhnen gegeben. Manch ein Zuschauer dankte nach vier Stunden seinem Heiland, der ihm Mut und Kraft gab, die Vorstellung zu überstehen.