Herr, lass Hirn regnen!
© Michael Berger, Pixelio
Es rieselt und rasselt in allen Ecken und Enden meines Oberstübchens, und ich fürchte mich davor, langsam aber sicher alles zu vergessen. Schüttele ich mein greises Haupt, schneien weiße Plättchen zu Boden, das sind wohl Bits und Bytes meines Erinnerungsvermögens. Suche ich etwas, habe ich es meistens so gut verlegt, dass ich es erst Tage später wieder finde. Versuche ich, mich an Namen, Daten oder Ereignisse zu erinnern, benötige ich gewaltige Assoziationsbrücken, um wenigstens an den Rand einer vagen Erkenntnis zu kommen. Stelle ich mein Auto ab, ohne Straße und Hausnummer aufzuschreiben, durchlebe ich oft mehrere Panikattacken, bis ich meinen fahrbaren Untersatz nach ziellosem Umherstreifen und Suchen wieder entdecke. In dunklen Träumen irre ich umher und versuche, mich zu orientieren. Dabei führe ich im Großen und Ganzen ein geordnetes Leben. Dennoch – oder gerade deshalb – stellt mir Alois Alzheimer erfolgreich nach.
Mit Ticks und Tricks mühe ich mich, dem Prozess des Älterwerdens zu begegnen und mich zu wappnen. Bekannte schlucken Gingko-Präparate und versprechen sich davon mentale Frische. Mir dient die Befolgung immer gleicher Rituale, Dinge zu finden und Abläufe zu erledigen. Moderne Technologien unterstützen mich dabei gnädig. Das nimmt bisweilen skurrile Formen an, und ich könnte jeden verstehen, der dies belächelt. Deshalb würde ich auch nie offen darüber sprechen oder gar schreiben.
Einen tiefen Brunnen der Erinnerung bietet die Ablage. Mein Leben ist in bunte Ordner abgelegt. In fetten roten Folianten lagern die Unterlagen, die materielle Werte meines Lebens betreffen, das sind widerspenstige Vorgänge mit Banken und Versicherungen. Es gibt gelbe Ordner mit Krankenkassenunterlagen, Arztberichten, Anamnesen und blutigem Schriftverkehr. Blau steht für die Hoffnung, hier finden sich Unterlagen zu Zweirad und Auto; schwarze sammeln Reiseunterlagen, Restaurantquittungen und Rechnungen. Aus allen Nähten platzen die Ordner zum Stichwort Elektronik, die mehrfach unterteilt wurden. Darin findet sich alles zum Thema Multimedia, Computer, Telefon und Internet.
Ich weiß, so sieht es auch in jedem halbwegs geordneten Büro aus. Das ist doch kein Zeichen beginnender Verwirrung. Dennoch fürchte ich das schwarze Loch des Vergessens wie der Teufel das Weihwasser und nutze auch auf meinem Rechner eine Unmenge Ordner, Listen und Verzeichnisse. Ich führe ein brandaktuelles Haushaltsbuch, in das jede Zahlung taggleich gebucht wird. Das schenkt immerhin den Vorteil, dass ich seit einem Jahrzehnt meine Ausgaben kenne und genau sehe, ob ich »über meine Verhältnisse« lebe oder die nächsten hundert Jahre unbesorgt Löcher in den Himmel starren kann. Inzwischen mutiere ich zum Tier, wenn mir ein Beleg entgleitet oder meine Traumfrau nicht brav jede frisch geschleckte Eiskugel zu Protokoll gibt. Mein Leben führe ich wie einen mittelständischen Betrieb.
Nennt mich einen Pedanten, einen Pfennigfuchser, einen Erbsenzähler. Das System hat mir immerhin geholfen, halbwegs den Überblick zu behalten. Namen, Adressen und Telefonnummern kannte ich früher auswendig, heute reicht ein Klick auf das entsprechende Dokument, und ich kenne mich aus. Wege muss ich mir nicht mehr einprägen, das GPS-System im Auto leitet mich sicher und (meist) unfehlbar ans Ziel. Klingelt das Telefon, öffnet sich ein Fenster im virtuellen Raum, und ich sehe bereits beim Entgegennehmen des Anrufs, wie der Anrufer heißt, mit wem er liiert ist, wie seine Kinder und Kindeskinder, sein Hund und sein Goldfisch heißen. Dies dient der Kommunikation und erspart mir peinliche Fragen nach dem Gesundheitszustand des Haushundes, der vielleicht schon vor vier Jahren sanft verschied, obwohl er mir in meiner Erinnerung noch die Hand leckt.
Auch Dinge des täglichen Lebens organisiere ich mit methodischer Regelmäßigkeit. Vor allem den Haustürschlüssel umklammere ich, als hinge mein Leben davon ab. Eine Zeitlang erfreute sich ein Schlüsselanhänger großer Beliebtheit, der auf Pfiff reagierte und sich so orten ließ. Sobald ich heute das Haus verlasse, binde ich den Schlüssel am Hosenbund fest, damit ich ihn nicht irgendwo vergesse und in Panik suchen muss. Bargeld kommt immer in dieselbe Tasche, Papiere werden brav und rituell verstaut. Zunehmend Probleme bereitet mir dabei jedoch meine Prinzessin, die mich zwingt, gelegentlich Hosen, Hemden und vor allem Jacken zu wechseln, bevor sie zerschlissen oder aus allen Fugen gegangen sind. Deshalb kann es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen durchaus passieren, dass sich ein wesentliches Utensil wie Sonnenbrille, Handy oder Autoschlüssel in einen anderen Rock verirrt und mich eine Weile planlos herum irren lässt.
Jetzt hat es mich trotz aller Maßnahmen voll erwischt. Jedenfalls fahren wir in den Winterurlaub und verladen dazu alles, was treu sorgende weibliche Hände raffen können. Ach, wie praktisch, dass ich einen Kombi fahre und einen mittleren Hausstand darin unterbringen kann. Ich packe und stapele Schneeschuhe, Thermokleidung, Mützen, Schals, Handschuhe und Proviant in geordneter Folge neben-, über- und untereinander, damit alles griffbereit liegt. Den Inhalt der Kisten, Koffer und Kasten, der Tüten und Taschen kenne ich nicht. Hier hat die Kommandierende die Übersicht, ich würde es sowieso in Sekunden wieder vergessen haben und an etwas anderes denken. Eigentlich bin ich bei derartigen Unternehmungen inzwischen nur noch für mich selbst verantwortlich. Ansonsten sind meine Aufgabenbereiche auf Fahren und Bezahlen begrenzt, und selbst das ist manchmal schon zu viel.
Auf dem Weg in den verschneiten Süden machen wir nach 250 Kilometern einen Zwischenhalt in der sächsischen Heimat der Prinzessin, um Verwandte zu besuchen. Im Gasthaus »Sachsenkrone« will ich meine Börse aus der Jacke ziehen, um eventuell anwesenden Langfingern das Leben zu erschweren. Gütiger Himmel, sie ist weg!
Mein Blutdruck steigt und eine seltsame Kühle kriecht vom Nacken über meinen Rücken. Systematisch durchsuche ich alle Taschen noch einmal. Wie viele mögliche Verstecke solch eine Wetterjacke bietet! Doch ich werde nicht fündig. Mit hektischen Bewegungen taste ich meinen Körper ab, ob irgendwo eine schwarze Ledertasche pappt. Ich bleibe erfolglos. Panik steigt auf, und ich gehe zum Auto zurück. Vielleicht ist sie beim Aussteigen in den Schnee gefallen und lacht mich jetzt aus? Aber auch auf und unter dem Sitz liegt sie nicht. Dafür entdecke ich dort andere Habseligkeiten, nach denen schon länger gefahndet wird. Ich entrümpele meinen Rucksack, um die hübschen Kreditkarten, Ausweise und Fahrzeugpapiere vielleicht dort wieder zu finden. Kabel, Ladegeräte, Stecker und Computer blinzeln mich verschlafen an, von meiner Brieftasche haben meine Elektrofreunde nichts gesehen.
Ich brauche dringend Verbündete und informiere mein Lebensglück von dem Verlust. Sie verlangt das, was mir am schwersten fällt: ich soll mich genau erinnern. »Wann hast du die Brieftasche zum letzten Mal gesehen? In welche Jackentasche hast du sie gesteckt? Wo könnte sie heraus gefallen sein?« Ich reagiere stets empört, wenn jemand meine Erinnerungsfähigkeit in Zweifel zieht und glaubt, ich hätte tatsächlich etwas anders gemacht als behauptet. Da ich mich aber mit zunehmendem Alter besser kennen lerne, bricht dieser Widerstand rasch in sich zusammen. Es ist schließlich durchaus denkbar, dass ich die Börse verlegt habe oder versehentlich fallen ließ. Einmal ist schließlich immer das erste Mal. Aber warum gerade heute??? Gemeinsam suchen wir Jacke, Tasche und Fahrzeug ab. Alle Mühen bleiben vergebens. Was für ein Mist!
Im Restaurant wähle ich Schnitzel mit Pommes. Zu einem interessanteren Gericht fehlt mir jeder Appetit. Aber selbst die geliebten Pommes können mich nicht aufmuntern und liegen wie Wackersteine im Magen. Den vollen Teller bedecke
ich mit einer Papierserviette, gebe ihn zurück und nippe lediglich am stillen Wasser. In meinem Kopf rasen Szenarios ab. Ich muss mich genau erinnern! Was habe ich zuvor gemacht, was tat ich danach, wohin legte ich dies und das? Es ist ein Kreuz mit den Verrichtungen des Alltags: so monoton und gleichmäßig sie auch scheinen, die konkrete Ausführung liegt im Nebel des Vergessens. Ein Würgeeisen legt sich um meinen Hals, bedenke ich die Konsequenzen: Kreditkarten sperren lassen, Papiere neu beantragen, Bürokratie ohne Ende – und alles mündet in der großen Ungewissheit, ob ich nicht vielleicht nur schusselig war, und die Sammlung Plastikpreziosen schlummert an einem sicheren Ort und lacht sich krank. Jedenfalls will und kann ich so nicht entspannt in Urlaub fahren.
Wild entschlossen entere ich das Automobil und rolle durch die Nacht nach Berlin zurück. Es regnet, die Temperatur liegt unter Null. Glitzernd spiegelt der Highway. Das wäre jetzt die gerechte Strafe für einen, der alles vergisst: in einen Crash verwickelt zu werden und der Bulleria nicht einmal einen Ausweis zeigen zu können. Das Rockradio dröhnt, ich gebe Gas. Donnernde Musik und gefühlte 300 Stundenkilometer, mit der ich die linke Fahrspur pflüge, beflügeln meine Erinnerung. In Gedanken bin ich inzwischen vollkommen klar und ruhig. Alles wird sich finden.
In Berlin biege ich in meine kleine Wohnstraße ein und beäuge sie im Schweinwerferlicht. Vielleicht liegt die gute, alte Börse einsam und platt gewalzt auf der Straße herum und ruft flehentlich nach mir? Leider nein, und auch in der Tiefgarage liegt sie nicht und weint, weil ich sie im Stich gelassen habe. Ich haste ins Haus, das ich erst wenige Stunden zuvor verließ, verschloss und verriegelte. Dort weiß ich genau, wo ich suchen soll. Garderobe ist Möglichkeit eins von sechs, Flurschrank ist Möglichkeit Nummer zwei, Küchentisch drei, Schreibtisch vier, rechte Schreibtischschublade fünf, rechte Schublade sechs und Schluss. Oh weh. Meine wundervolle Brieftasche samt Inhalt bleibt unsichtbar. Sie ist weg, verschwunden auf alle Ewigkeit. Das ist der Preis meiner Schusseligkeit.
Ich gebe nicht auf und wiederhole die Suche in der Wohnung der unbegrenzten Möglichkeiten. Dieses Mal schaue ich sogar unter Schränken und Behältnissen nach und frage die Staubmäuse, ob sie etwas wissen. Doch ich bleibe erfolglos. Was tat ich zuletzt, bevor ich ging? Ich setzte mich an meinen Lieblingsplatz, den alten Schreibtisch, der mich täglich ertragen muss und dem niemand Mitgefühl schenkt. Hatte ich nicht Postkarten aus einer Zigarrenkiste genommen, um mich mit Werbematerial auszurüsten? Ich klappe das Kistchen mit den farbigen Banderolen auf – und da lacht sie mir tatsächlich unschuldig entgegen! Simsalabim. Meine Brieftasche ist wieder da.
Glücklich und erschöpft sacke ich zusammen, greife zum Telefon, um Frauchen zu benachrichtigen und klappe erst einmal meinen Rechner auf, um diesen Vorgang festzuhalten. Damit kann ich es beim nächsten Urlaubsantritt vorher lesen und weiß, wohin ich unbedingt schauen muss. Dann vergesse ich es bestimmt nie wieder!
Auf der Rückfahrt zur Eisprinzessin lausche ich einem Hörbuch. Otto Sander liest Geschichten von Charles Bukowski. Der Mann mit der Ledertasche war hoch neurotisch und führte stets mehrere Sätze Autoschlüssel mit sich, weil er Angst davor hatte, sie zu verlegen und zu verlieren. Was steht mir wohl noch alles bevor, wenn das unheimliche Vergessen weiter von mir Besitz ergreift?