Wagenburgindianer treffen auf Zehlendorfer Schnösel. Foto: ©Neuköllner Oper
In einer Berliner Wagenburg wird feucht-fröhlich Geburtstag gefeiert: Frederik (Aris Sas) wird 21 und damit volljährig. Von seinen vermeintlichen Eltern, dem Punk Rainer (Christoph Reiche) und seiner Mutter Ruth (April Hailer) erfährt er, dass er in Wahrheit ein Waisenkind ist.
Ruth stahl den Säugling in einem Moment äußerster Verwegenheit aus einer Babyklappe in Zehlendorf, wo ihn eine Blondine abgelegt hatte. Mit dieser revolutionären Tat machte sie sich selbst zur Mutter, den impotenten Rainer zum Vater und verschaffte der Wagenburgfamilie frischen Nachwuchs.
Frederik indes will nicht länger im Dreck der Wagenburg leben und sein Leben mit Saufen und dem gelegentlichen Posieren vor Berlin-Touristen verbringen. Er kennt den Kodex der sich als »Piraten« verstehenden Truppe, nach dem ein Volljähriger sein künftiges Schicksal selbst bestimmen kann. Frederik träumt vom Berliner Edelbezirk Zehlendorf, wo alles geordnet und adrett zu sein scheint.
Da kommen drei Discobräute auf das von den Piraten besetzte Brachland, um Kokain zu kaufen. Mabel (Anne Görner) verknallt sich sofort in den langhaarigen Frederic, der ihr wie ein animalischer Wilder aus einer anderen Welt vorkommt und verführt ihn mittels K.o-Tropfen. Auch ihre beiden Schwestern Edith (Dorothea Breil) und Kate (Nini Stadlmann, die zugleich für die Choreographie verantwortlich zeichnet) sind begeistert von dem wilden Leben der Outlaws und würden liebend gern bleiben. Doch Frederik zieht gegen den Willen der Gemeinschaft mit den drei jungen Frauen nach Zehlendorf und in ein vermeintlich besseres Leben. So endet der erste Akt, und die Szene wechselt ins andere soziale Extrem.
Im zweiten Akt hat Frederik sich nämlich voll und ganz in Zehlendorf eingelebt. Inzwischen hat er Mabel geheiratet, und aus dem einstigen Revoluzzer ist ein Spießer geworden. Frederik paktiert sogar mit seinem Schwiegervater, dem Bauunternehmer Igor (Ulrich Lenk), der Besitzer der Brachfläche ist, die Frederiks Ex-Familie besetzt hält und sie ihnen mit List und Gewalt wieder abjagen will.
Eines schönen Tages besuchen Rainer, Ruth und ihre Freunde die Zehlendorfer und fordern Frederic zur Rückkehr auf. Sie eröffnen dem widerspenstigen Jungen, dass er am 29. Februar eines Schaltjahres geboren und damit in Wirklichkeit erst vier Jahre jung sei. Es müsse also noch einige Jahrzehnte warten, bis er 21 werde und sie verlassen dürfen. Als pflichtbewusster Sklave, so auch der historische Originaltitel der komischen Oper »The Pirates of Penzance, or The Slave of Duty«, akzeptiert Frederic ihre Logik und bittet Mabel, auf ihn zu warten.
Im Ergebnis kommt es zu einem possierlichen Auftritt Igors mit umgebundenem Sprengstoffgürtel als Selbstmordattentäter. Frederiks Herkunft wird aufgeklärt, tatsächlich ist er Igors Sohn und Halbbruder der von ihm geehelichten Mabel. Ob nun alles gut wird und die feindlichen Parteien zueinander finden?
Historische Opernvorlage
Regisseur Andreas Gerken und Librettist Andreas Bisowski setzen ihre moderne Erzählung auf eine klassische Oper, die bereits 1879 in New York Premiere hatte. »The Pirates of Penzance, or The Slave of Duty« ist ein Zweiakter, den Arthur Sullivan komponierte und mit dem Originallibretto seines Freundes und Weggefährten William Schwenk Gilbert zu einem enormen Erfolg im gesamten englischsprachigen Raum führte.
Komponist Sullivan bediente sich aus verschiedenen musikalischen Stilrichtungen. Im Song des Bauunternehmers, im Original ist es ein General, imitiert er Schubert. Ein Chorlied zitiert den Zigeunerchor im zweiten Akt von Verdis »Troubadour«. In einem Wechselgesang zwischen Mabel und der Polizei nutzt er die Form des Wechselgesangs des anglikanischen Gottesdienstes.
Der ursprüngliche Titel der Oper war als Scherz angedacht. Unter »Piraten« verstanden Gilbert & Sullivan diejenigen amerikanischen Theaterunternehmer, die mangels eines Urheberrechtsschutzes für Ausländer ohne Rücksicht auf Komponisten und Autoren Stücke klauten und selbst gewinnbringend zur Aufführung brachten. So war es den beiden mit ihrer Oper »H.M.S. Pinafore« zuvor geschehen.
Um den Ideenpiraten zuvor zu kommen, veranstalteten die beiden die Premiere ihres Stückes in New York selbst und verzögerten die Veröffentlichung des Librettos. Sullivan komponierte die Musik in umgekehrter Richtung, er schrieb erst den zweiten Akt, dann die Songs für den ersten Akt. Nachdem er mit seinem Librettisten in New York ankam, um seine Arbeit parallel zu den Proben zu vollenden, bemerkte er erst, dass er seine Noten für den ersten Akt vergessen hatte. Mühsam musste er alles neu schreiben und bediente sich dabei auch aus eigenen Opern.
1980 nahm Joseph Papp, Gründer des New York Shakespeare Festival, das Stück am Broadway wieder auf. Rockröhre Linda Ronstadt brillierte als Mabel, James Belushi, Tim Curry und Kevin Kline traten als Piratenkönige auf.
Die Neuköllner Inszenierung von 2008 ist witzig und temporeich. Bei der Gegenüberstellung extremer Lebensentwürfe entsteht Spannung. Dass dabei tief in die Klischeekiste gegriffen wird, wird durch die mitreißende Musik wettgemacht.