Wenn dass Leben bröckelt, und die Vergesslichkeit alles in weiße Watte hüllt, dann reduziert sich das Dasein auf Reste, auf Trümmer, auf Fragmente. Die »Neuköllner Oper« thematisiert mutig die Problematik Alzheimer und bringt sie in einer Kammeroper auf die Bühne. Betroffene und ihre Angehörigen irren durch ein »Niemandsland«, und so lautet denn auch der Titel der neuesten Produktion.
Die Zuschauer sitzen in einem aufgeschnittenen Gehäuse, das mit Möbeln der 60er Jahre ausstaffiert ist. Spüle, Kochnische, Schränke, Klappcouch, Doppelbett, Fernseher drängen sich auf engstem Raum und erwecken einen verwahrlosten Eindruck. Es ist die Wohnhöhle des an Alzheimer erkrankten Vaters (Eckhart Strehle), der ziellos durch das Ensemble irrt und gelegentlich wie ein Kleinkind aufbegehrt. Er sucht seine vor fünfzehn Jahren in den Freitod gegangene Frau und glaubt gelegentlich immer noch, er betreibe einen kleinen Gasthof.
Am Küchentisch versucht Sohn Georg (Alexander Mildner) verzweifelt, Rechnungen und andere Briefe zu sortieren, um das soziale Leben des Schwerkranken zu ordnen. Er kümmert sich um den Vater, er kleidet ihn, füttert ihn und versucht, ihn zu beruhigen. Zu den beiden stößt der verstoßene Sohn Sebastian (Michael Johannes Berner), ein Pianist. Im elektrisierten Aufeinanderprallen des Trios entsteht das Bild einer Familie, in der nahezu alles schief gelaufen ist.
»Niemandsland« ist wie ein Theaterstück inszeniert. Dramaturgisch geschickt wird mit Stimmen aus dem Off gearbeitet, die jeweils die inneren Gedanken der Akteure preisgeben. Im Kopf des Vaters fetzen Bruchstücke der Erinnerung, die er aber nicht mehr ausdrücken kann. Auch bei den Söhnen sind Gedanken und Äußerungen selten synchron. Die Drei versuchen zwar, sich umständlich einander anzunähern, doch es gelingt ihnen nicht. Aus dem Niemandsland gibt es kein Entrinnen.
Musikalisch ist das Thema der Kammeroper raffiniert gelöst. Mit expressivem Schlagwerk, Vibraphon und Marimbaphon unterstreicht Perkussionist Olaf Taube die starke Emotionalität des Themas und drückt die Dissonanz der Charaktere schlagfertig aus. Mit Hilfe von diversen Schlag- und Effektinstrumenten erzeugt er einen Klangteppich, der dem anspruchsvollen Thema voll entspricht.
Mit Winfried Radekes »Niemandsland« knüpft die »Neuköllner Oper«, die in Erinnerung an ihre gleichnamige Spitzenproduktion vor acht Jahren gern als »Wunder von Neukölln« bezeichnet wird, wieder an ihre starken Traditionen an. Fazit: Unbequemes Thema, großartige Umsetzung.