Ponte liest. Foto: © Wilhelm Ruprecht Frieling
In seinem satirischen Roman »Unser Mann in Havanna« schreibt Graham Greene seinem Protagonisten James Wormold, einem als Staubsaugervertreter getarnten britischen Geheimagenten, ins Tagebuch: »Es war an der Zeit seine Sachen zu packen und die Ruinen von Havanna zu verlassen«. Anders als Wormold verlässt Pontes Protagonist Havanna zum vollkommenen Unverständnis seiner Freunde nicht. Vielmehr hält er es mit Maupassant, der Frankreich wegen des Baus des von ihm und anderen Künstlern als »Schandfleck« bezeichneten Eiffelturms verließ, dann jedoch zurück kehrte und häufig im Restaurant der Stahlgiraffe anzutreffen war. Dies war nach seinem Bekunden der einzige Platz in Paris, wo er den Turm nicht sehen musste.
Antonio José Ponte versteht sich selbst als »Ruinologe«. Der in Kuba mit Preisen und einer Literaturprofessur geehrte Autor ist dort inzwischen in Ungnade gefallen und lebt seit 2006 im Madrider Exil. Er wurde vom kubanischen Schriftstellerverband »deaktiviert«, damit bleibt er zwar formal Mitglied, darf jedoch weder publizieren noch Ehrenämter bekleiden. »Der Ruinenwächter von Havanna« ist seine erste in deutscher Sprache vorliegende Publikation.
Ponte unternimmt literarische Streifzüge durch Havannas Altstadt auf den Spuren von Graham Greene, Jean Paul Satre und Ry Cooder. Er beschreibt die Altstadt der kubanischen Hauptstadt als einen Unfall in Zeitlupe, als ein unaufhaltsames Zerbröseln von Bausubstanz, von Gebäuden und Quartieren. Über Jahre häufte sich ein Berg von Problemen an, der auch durch die Einrichtung neuer Museen und von Bars, die sich bei näherem Hinsehen selbst als Museen entpuppen, nicht abgetragen wurde. Ponte meint, die größte städtebauliche Leistung durch die Revolutionsregierung bestehe darin, Havanna seinen Bewohnern entfremdet zu haben: »Derart fremd geworden, dass niemand sich für die Stadt verantwortlich fühlt, wird sie aus der Ferne vermisst«.
Der Autor beobachtet das Entstehen von etwas, das er »horizontale Ruine« nennt: nicht einzelne zusammen stürzende Gebäude, sondern eine ganze Stadt, die sich flächendeckend in eine gigantische Ruinenkonstruktion verwandelt, in der immer wieder der Strom ausfällt. Jahrelang leuchtete ganz oben an der Fassade des Bauministeriums die Losung »Revolution ist Bauen«. Allerdings wird die Ära Castro nach Ansicht des Autors wohl ohne bemerkenswerte bauliche Hinterlassenschaften zu Ende gehen; es fehlt sowohl an Verantwortungsbewusstsein für die Rettung der Altstadt als eine Architektur der Moderne.
Letztlich besteht der Irrtum der sozialistischen Wohnungspolitik darin, den Bewohnern die Verantwortung über den Wohnraum zu überlassen, die den vorherigen Eigentümern genommen wurde. Doch die neuen Besitzer, die in Havanna teilweise sogar ihre eigene Miethöhe festsetzen durften, verhalten sich wie Tauben: sie verlassen die Gebäude, sobald sie vollends unbewohnbar geworden sind und flattern durch die Löcher in den Dächern, um den nächsten freien Winkel zu besetzen.
Wann wird ein Gebäude zur Ruine, fragt Ponte und antwortet: »Man steht von dem Moment an vor einer Ruine, wenn die Schäden an einem Gebäude unwiderruflich sind. Wenn es nicht mehr das Verlangen nach Wiederaufbau weckt, hat das Gebäude angefangen, zur Ruine zu werden. Das Zeichen ist ein Sims, der unter allgemeiner Teilnahmslosigkeit am Boden landet, oder das nicht zur Kenntnis genommene Abfallen eines Balkons.«
Abseits aller Revolutionsromantik um Fidel Castro, Camilo Cienfuegos und Ernesto Che Guevara und dem von der Buena-Vista-Rhythmik beschworenen Mythos wird mit diesem ungewöhnlichen Werk das Ende eines Systems an einem seiner schwächsten Punkte karikiert: an seinem Umgang mit dem Altern der Hauptstadt. Der »Ruinenwächter von Havanna« ist ein romanhafter Essay mit verstörendem Effekt auf den Leser und sicherlich eines der ungewöhnlichsten Zeugnisse der aktuellen kubanischen Literatur.
Antonio José Ponte
Der Ruinenwächter von Havanna
Kunstmann 2008
ISBN 978-3-88897-511-0
Weitere Leseempfehlungen von Wilhelm Ruprecht Frieling auf Literaturzeitschrift.de
Horst Evers erzählt Geschichten. Sie sind kurz, vielleicht drei Minuten lang, und sie entfalten ihren Charme besonders, wenn der Verfasser sie selbst vorträgt. Dann betritt ein blasser, nahezu kahlköpfiger, tendenziell übergewichtiger Mann im roten Hemd die Bühne. Sein bloßes Erscheinen löst bereits Gelächter bei Stammhörern aus. Er spricht in bedächtiger Art und wirkt dabei so, als schaue er dem eigenen Gedanken bei dessen träger Entwicklung zu. Ihn kennzeichnet Lethargie und Schluffigkeit, und wüsste man es nicht besser, man würde ihn eventuell sogar für einen Trottel halten. Ruprecht Frieling traf den erfolgreichen Autor, Kabarettisten und Träger des Deutschen Kleinkunstpreises 2008, der sich selbst gern ironisch den lustigsten Mann der Welt nennen lässt, im Berliner Kabarett-Theater »Die Wühlmäuse«.
HIER geht es weiter →