Während Arbeitskollegen und Freunde nach Feierabend aufs Sofa sinken, den Fernseher anschalten oder sich im Internet tummeln, rast Torsten Schwichtenhövel von einer Veranstaltung zu anderen. Er führt Interviews, fotografiert, schreibt Berichte. Seit Jahren opfert der Familienvater einen erheblichen Teil seiner Freizeit, um als Bürgerjournalist tausende Leser einer lokalen Online-Zeitung mit Informationen zu bedienen. Warum macht er das? – Ruprecht Frieling traf den rasenden Reporter und fühlte ihm auf den Zahn.
Das Ackerbürgerstädtchen Oelde liegt an der A 2 zwischen dem durch den Bertelsmann-Konzern bekannten Gütersloh und der seit dem Mittelalter legendären Schildbürgerstadt Beckum. Mächtige Eichen, Buchen und Kastanien säumen die Wege, schattige Wallhecken, singende Wälder und saftige Streuobstwiesen bestimmen das Landschaftsbild. Aus wogenden Getreidefeldern steigen jubilierende Lerchen himmelwärts. Der Wigbold präsentiert sich dem Ankömmling mit braunroten Klinkerhäusern und graugelben Sandsteingebäuden, einem Bahnhof an der einstmals strategisch bedeutsamen Linie Moskau-Paris, Kneipen und Bierschwemmen wie Sand am Meer sowie Weihrauch, Myrrhe und andere Räucherharze atmende Kirchen.
Absolutes Monopol der lokalen Zeitung
Die mitten im immer noch weitgehend schwarzen Münsterland liegende Stadt Oelde bietet medienpolitisch ein seltenes Phänomen: Es handelt sich um einen Ein-Zeitungs-Kreis, in dem sich die Einwohner nur aus einer einzigen Tageszeitung über das örtliche Geschehen informieren können. Die Lokalzeitung genießt damit in der lokalen Berichterstattung ein absolutes Monopol.
Seit dem 14. Mai 1880 bestimmt die Tageszeitung »Die Glocke«, was die Bürger im Kreis erfahren dürfen und was nicht. 62 fest angestellte Redakteurinnen und Redakteure sowie fünf Volontäre füllen das Blatt mit lokalen, regionalen und überregionalen Nachrichten und lenken damit die öffentliche Meinung. Keine andere Zeitung hat es in den zurückliegenden fast 140 Jahren geschafft, auch nur ansatzweise eine lokale Berichterstattung für den Kreis aufzubauen oder am Monopol zu kratzen. Zur Absicherung seiner Herrschaft hat der Verlag auch das Sagen in den Radiosendern Radio WAF (Kreis Warendorf) und Radio Gütersloh, die im Hauptverbreitungsgebiet der Glocke ihr Programm ausstrahlen. Darüber hinaus wird die Zeitung auch elektronisch als E-Paper angeboten.
Lokales Online-Magazin bricht Monopol
Am 11. November 2012 jedoch kam es zum Aufschrei derjenigen, die sich bislang sicher waren, das Monopol auf die öffentliche Meinung zu haben. Wie das Loch Ness Monster aus der Tiefe der schottischen Bergseen stieg ein neues Online-Magazin aus dem Nichts hervor und bereicherte die lokale Medienszene. Der OELDER ANZEIGER hatte sich aus einer innerhalb weniger Wochen explosionsartig auf weit über 3.500 Mitglieder gewachsenen lokalen Facebook-Gruppe gebildet. Ab sofort gab es unzensierte Informationen und Aufklärung für die Bewohner von Stadt und Kreis. Diese neue, frische und freche Art des Lokaljournalismus bot dem Bürger die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden und unterschiedliche Standpunkte in Sachthemen zu vertreten.
Das öffentliche Augenmerk richtete sich auf den Graswurzel-Journalismus, der durch die Bereitstellung von unabhängigen, verlässlichen, genauen, ausführlichen und relevanten Informationen das Monopol der Tageszeitung infrage stellte. Das Schnauben der sich angegriffen Fühlenden war bis nach Berlin zu hören. Es gab Versuche, den OELDER ANZEIGER abzuschalten, Anwaltsschreiben und Drohanrufe waren an der Tagesordnung. Inzwischen gibt es eine kollegiale Akzeptanz auf Kollegenebene. Giftige Angriffe kommen hingegen von Nazifreunden, die das Magazin mit konzentrierten DNS-Attacken lahmlegen wollen, nachdem eine AfD-Veranstaltung durch öffentlichen Widerstand verhindert wurde.
Berichterstattung trotz direkter Angriffe
Trotz aller Intrigen und Widerstände bietet der OELDER ANZEIGER seit November 2012 vielschichtige Informationen und Aufklärung für die Bewohner Oeldes und bereichert die Medienszene. Jüngster Erfolg der Bürgerbewegung ist ein Bürgerbegehren um die Gestaltung des Marktplatzes, bei dem 2.839 Unterschriften gesammelt wurden, mit denen eine Aufhebung des Ratsbeschlusses gefordert wird. Ein Bürgerentscheid wird inzwischen vorbereitet. Bürger werden politisch aktiv und spüren den Rückhalt auch durch die Online-Berichterstattung.
Von Anbeginn dabei ist Torsten Schwichtenhövel. Der beim DAX-Konzern GEA Westfalia Separator Group tätige Techniker ist ehrenamtlicher Chefredakteur vom OELDER ANZEIGER. Er pendelt zwischen Polen, Kanada und Neuseeland und erledigt seine redaktionelle Arbeit in seiner knapp bemessenen Freizeit teilweise vor Ort, teilweise aus dem Hotelzimmer. Hausintern wird er liebevoll als »rasender Reporter« bezeichnet.
»Ich wünsche mir mehr Öffentlichkeit«
Ruprecht Frieling: Warum machst du eigentlich seit bald sieben Jahren den OELDER ANZEIGER? Hast du zu viel Zeit? Ärgerst du gern andere Leute? Bedeutet dir das Blatt etwas?
Torsten Schwichtenhövel: Lange vor dem OELDER ANZEIGER habe ich mich schon für aktuelle Berichterstattung interessiert und auch gelegentlich darüber aufgeregt. Fernsehen schaue ich recht wenig, aber die Nachrichten um 20.00 Uhr müssen zwei bis drei Mal in der Woche sein. Wenn ich morgens aufwache, greife ich meist zum Handy und schaue mir die neuesten Nachrichten aus Ost und West an. Kim, Trump und was sonst noch so die letzten paar Stunden los war, in denen ich geschlafen habe.
Ruprecht Frieling: Das Internet und die damit ausgelöste Freiheit der Berichterstattung hat für den seit einem Jahrhundert schlafenden Ein-Zeitungs-Kreis Oelde Bewegung in die öffentliche Diskussion gebracht.
Torsten Schwichtenhövel: Mit der ehemaligen Facebook-Gruppe »Du bist Oelder« und der damit verbundenen Geburtsstunde des OELDER ANZEIGER fing es bei mir so richtig an. Kurznachrichten gepaart mit Fotos: Das war und ist immer noch ein Kick. Etwas zu veröffentlichen für viele tausend Leser und damit etwas bewegen und verändern. Die Macht des Webs macht es möglich.
Ruprecht Frieling: Ich erinnere mich an einen deiner ersten scharfen Artikel »Vier-Jahreszeiten-Park: Die nackte Wahrheit«.
Torsten Schwichtenhövel: Ich hatte stundenlang das damals noch offene Rathaus-Informations-System durchwühlt und Daten daraus extrahiert. Nach der Veröffentlichung lag ich mit Herzpochen im Bett und musste immer wieder aufs Tablet nach den Kommentaren und Reaktionen der Leser sehen. Das war der Anfang. Mittlerweile ist das Herzklopfen oftmals nur noch da aus Wut, wenn mir hier etwas gewaltig gegen die Hutschnur geht. Absaufende Schüler wegen undichter Dächer, Mitarbeiter-Entlassungen kurz vor Weihnachten (Loddenkemper) und ein paar Tage Wochen später sucht ein Gruppen-Unternehmen der Möbel-Szene hier Mitarbeiter. Eine unnötige neue Feuerwehrwache oder ein neuer Marktplatz in Muschelkalk-Kack-Farben.
Ruprecht Frieling: Aber es gibt doch die »Glocke«, die eigentlich die Meinung der Menschen vor Ort spiegeln müsste …
Torsten Schwichtenhövel: Es stört mich, dass die Lokalpresse kein Rückgrat hat, um Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Natürlich frage ich mich dann genau wie du, warum macht man das überhaupt? Es gibt schließlich keinen Cent dafür. Dafür hagelt es bisweilen blöde Sprüche. Du fragst, ob ich gern andere Leute ärgere? Eigentlich bin ich ein friedvoller Mensch, der überhaupt keinen Bock auf Stress hat. Wenn man dann aber beobachtet, dass in unserer kleinen Stadt einiges falsch läuft und Dinge zum Himmel stinken (der Nazi-Fall Preneux oder die Auftritte der AfD), dann finde ich, dass eigentlich jeder seinen Arsch hochkriegen und deutlich Position beziehen müsste.
Ruprecht Frieling: Der Wunsch nach Gegenöffentlichkeit?
Torsten Schwichtenhövel: Genau. Mein innerlicher Antrieb ist der Wunsch nach Öffentlichkeit. Was in der Monopolpresse nicht mit einer Silbe erwähnt wird, dem möchte ich ein Sprachrohr sein. Da draußen gibt es endlos viele interessante Geschichten und Themen, die weitergetragen werden müssen. Das ist wohl so ähnlich wie im Self-Publishing, das jedem die Chance gibt, sein Buch unzensiert veröffentlichen zu können.
Ruprecht Frieling: Erinnerst du dich noch an deine ersten journalistischen Gehversuche?
Torsten Schwichtenhövel: Schaue ich zurück auf die ersten »Artikel«, schämt man sich fast dafür. Aufbau, mediale Inhalte & Co. steckten noch in den Kinderschuhen. Ich bin schließlich kein gelernter Journalist. Ich habe ursprünglich Schlosser gelernt und mich dann zum Techniker qualifiziert. Heute empfinde ich es als wichtig, dass ich Artikel schreibe, die möglichst viele Hintergrund-Informationen liefern – auch in Form von Links zu Wikipedia, zu Videos bei YouTube usw.
Ruprecht Frieling: Wie gehst du mit der doppelten Belastung zwischen Job und Online-Arbeit um?
Torsten Schwichtenhövel: Ab und zu kotzt mich der Druck an, etwas zu schreiben, weil ich kaum noch Zeit habe. Ich wünsche mir mehr aktive Mithilfe von freien Mitarbeitern.
Ruprecht Frieling: Warum also das Ganze?
Torsten Schwichtenhövel: Weil ich nicht der Typ bin, der nur still abends vorm TV mit einer Flasche Bier sitzt und sich die modernen Gladiatorenkämpfe in Form von König Fußball eintrichtern lässt. Ich bin kein Mensch, der einfach alles herunterschluckt und zu allem Amen sagt. Ich mache das, weil es mir Freude bereitet und ich hilfsbereit bin. Ich lerne viele Menschen kennen, und ich lerne immer wieder etwas Neues dazu. Das ist mir Lohn und Ansporn genug.
Ein Dankeschön an den Verfasser und Interviewer Ruprecht Frieling. Hier wird ein unabhängiges Sprachrohr und sein Urheber bzw. sein Rückgrat in angemessener Weise gewürdigt. Rückgrat hat Thorsten oft genug in der Vergangenheit bewiesen. Ich hoffe und wünsche mir eine weiterhin so engagierte und unabhängige Berichterstattung sowie die bleibende freie Meinungsäußerung. Danke, Torsten Schwichtenhövel.
Dankeschön, Ludger!
Bewundernswert: Torstens unentgeltlicher Einsatz für den Oelder Anzeiger.
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