Die »Pretty Things« galten 1966 als härteste und schmutzigste Band der Welt, und wir wollten sie sehen. Ihre Hits »Get the picture«, »LSD« oder »Buzz the Jerk« kannten wir auswendig, ohne den Inhalt genau zu verstehen. Die Stücke waren in harter Gossensprache geschrieben, prall gefüllt mit sexuellen Anspielungen (to jerk = wichsen) und deshalb teilweise im prüden Amerika verboten. Der Brite Phil May, Gründer und Leadsänger der »hübschen Dinge«, war außerdem der Mann mit den längsten Haaren Europas. Sein bewusstes Anderseins und das Image der Band machte ihn vielen zum Vorbild.
Bye, Bye, Phil May!
Ein Nachruf auf den Frontmann der »Pretty Things«
Wir wollten der beklemmenden Enge unserer Elternhäuser entfliehen. Wir wollten weg von den Einflüsterungen des Klerus, weg von der Rohrstockerziehung unserer Pauker und der Eindimensionalität unserer Lehrherren. Wir glaubten, die Ketten der Konvention abschütteln zu müssen, um »frei« zu sein. Deshalb ließen wir unsere Haare wachsen. Deshalb trugen wir Blümchenhosen und abgelegte grüne Armeeparkas, die mit Losungen wie »Make love not war« verziert waren. Wir fühlten uns als Misfits, als Außenseiter, als Sonderlinge, die durch das Band der Beatmusik mit Gleichaltrigen auf der ganzen Welt verbunden waren, und wir verhielten uns entsprechend.
Die Freunde hießen Günni, Charly, Kurti, Archi, Molli, Tommi und Theo – jeder hatte einen Spitznamen oder kürzte seinen Vornamen ein, ich hieß Rupi. Wir waren vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahre jung. Die Volljährigkeit, damals erst mit dem 21. Geburtstag erreicht, erschien uns unerreichbar weit entfernt. Die wenigen Erwachsenen, die wir in unseren Kreis ließen, besaßen einen fahrbaren Untersatz. Das eigene Auto machte sie zu Schlüsselfiguren, denn Mobilität war eine zentrale Voraussetzung, um den Idolen der Zeit näherzukommen.
Es gab zwar die Deutsche Bundesbahn, mit der Städte wie Bielefeld erreichbar wurden. Doch Schwarzfahren war riskant. Man musste bei jedem Halt Ausschau halten, wie weit der Schaffner durch den Zug patrouilliert war und sich den Herren ohne Fahrschein näherte. War der Kontrolletti schnell, verschanzten wir uns auf dem Klo, um erst in Bielefeld Hauptbahnhof die Tür zu öffnen und vorsichtig um uns spähend aus dem Zug zu hüpfen. Sehr viel angenehmer war es dagegen, sich mit sieben, acht Freunden in einen alten DKW, Ford oder VW zu zwängen und unter Hallo und wildem Geheul über die Bielefelder Berge nach Puddingtown zu rollen.
Im Starclub Bielefeld waren »The Pretty Things« willkommen
Vom Bahnhof Bielefeld aus öffnete eine Unterführung den Zugang zu den weniger gut situierten Teilen der Stadt. Schier endlos zog sich die Jöllenbecker Straße, eine triste Magistrale. Es fuhr eine Straßenbahn, doch die kostete Geld. Also schlürten wir im Staub der Straße oder rollten mit unseren Privattaxen ein paar Kilometer geradeaus. Dann ging es rechts ab in eine Nebenstraße. Die mündete an einem düsteren Friedhof. Gegenüber stand ein großes Eckgebäude, das Ureinwohner als »Volkshaus Sudbrack« erinnerten.
In diesem Etablissement mit höchst wechselvoller Geschichte eröffnete am 2. Oktober 1964 der Star-Club Bielefeld. Künftig hatten Beatfans aus West- und Ostwestfalen einen Anlaufpunkt. Der Saal fasste 1.000 Besucher, eine Theke erstreckte sich in voller Länge an einer Seite. Die angeschlossene Kneipe bot ausreichend Gelegenheit, sich vor und nach den Shows abzufüllen. Getreu seinem zwei Jahre zuvor eröffneten gleichnamigen Vorbild in Hamburg spielten auch in Bielefeld Abend für Abend deutsche und britische Beatgruppen. Teilweise waren die Bands schon durch Schallplattenerfolge bekannt, die meisten von ihnen machten sich gerade einen Namen. Die Hamburger »Rattles« gaben »Remo Four«, »Liverbirds« und »Pretty Things« die Klinke in die Hand.
Die meisten Bands spielten mehrere Wochen lang am Stück jeden Abend zum Tanz auf. Insgesamt 79 Mal standen beispielsweise die »Beatles« aus Liverpool bis Ende 1962 auf der Bühne des Star-Clubs Hamburg und starteten hier ihre Weltkarriere. Auftritte im »Star-Club« konnten ein Sprungbrett sein. Auch die von uns so heiß ersehnten »Pretty Things« spielten mehrere Abende hintereinander im Bielefelder Star-Club. Es gab also mehrfach die Möglichkeit, die Gruppe zu erleben.
Als wir in Jöllenbeck eintrafen, schraubte ein vor dem Bühneneingang geparkter, zerbeulter Jaguar mit britischem Kennzeichen unseren Blutdruck in die Höhe. Dies sei das Fahrzeug, mit dem die Bandmitglieder unterwegs seien, raunten sich Fans zu, die teilweise schon Stunden vor Beginn der Veranstaltung eingetroffen waren. Wir hockten in der Kneipe des Clubs, tranken Bier und Sauren Paul, rauchten filterlos, schluckten Captagon, Preludin, »Hallo wach« und quatschten.
Mit »Road Runner« legten Phil May und seine Band los
Endlich war es so weit. Der Star-Club öffnete seine Pforten. Türsteher in schlecht sitzenden Anzügen und weißen Nyltesthemden regelten den Einlass. Nyltesthemden standen für die drei »B«: bügelfrei, billig und bescheuert. Schwitzte man in dieser modernen Art der Oberbekleidung, dann roch man bald wie ein alter Iltis. Wir lehnten Plastikklamotten ab. Unsere mehrfarbigen Hemden waren aus Leinen, Cord oder Seide gefertigt, die schon viel miterlebt hatten und sichtbar angegriffen waren.
Die Luft im Inneren des »Star-Club« flirrte. Lichtkegel tasteten sich durch wabernde Rauchschwaden. Gewaltige Boxentürme lachten uns von der Bühne an. Die Lautstärke konnte nie hoch genug sein, und Bielefeld war berühmt für seine Anlage. Verstärker und Boxen wurden vom Bielefelder Musikalienhändler Rost gestellt. Nur Boxen von »Papa Rost« machten den richtigen Sound und erzeugten jene Wahnsinns-Lautstärke, die wir liebten.
Ein schlaksiger Ansager mit schmaler Krawatte kletterte auf die Bühne und kündigte »die härteste Beat-Band aller Zeiten« an. Ohne Umschweife setzten die »Pretty Things« ein: »I´m a Road Runner, honey« schrie Sänger Phil May und verschlang dabei fast das Mikrophon, das er an einem Ständer hinter sich herschleppte. Schlagzeuger Vic Prince traktierte ein Crash-Becken und Dick Taylor, Rhythmusgitarrist der Band, zog eine Glasscherbe langsam über die E-Saite seines Instruments und erzeugte ein langgezogenes Ratschen. »Beep Beep« antworteten die anderen Bandmitglieder im Chor.
Die »Pretties« begannen jeden Auftritt mit »Road Runner«, ein Song, den der amerikanische Rock´n´Roller Bo Diddley 1960 geschrieben hatte. Begeistert wiederholte das Publikum den eingängigen Refrain. »Beep Beep.« »Beep Beep!« Ein paar Pärchen zappelten vor der Bühne und zuckten ekstatisch. Wir rückten Richtung Boxen, als könnten wir bei dem infernalischen Lärm irgendwas verpassen. »Beep Beep!« »Beep Beep!« Ein Hit folgte dem anderen. »Don´t bring me down«. »Cry to me«. »You don´t believe me«. Wir kannten sie alle und rockten mit.
Phil May und Dick Taylor hatten die »Pretty Things« 1963 in London gegründet. Taylor hatte zuvor mit Mick Jagger die »Rolling Stones« ins Leben gerufen und als Bassist begleitet. Die »rollenden Steine«, von deutschen Spießern als »Höhlenmenschen« bezeichnet, waren dem Musiker indes zu brav. Er wollte einen bodenständigen, schmutzigeren Sound schaffen, nicht nur Songs covern, sondern auch eigene Stücke schreiben. So gelangte die Band bald in den Geruch, eine finstere Bande zu allem entschlossener Musiker zu sein, die »dreckige« Rockmusik machten.
Härter als die »Rolling Stones«
Die »Pretty Things« spielten härter und ungehobelter als die Stones und sahen verwegener aus. Neben Phil May und Dick Taylor wirkten die »Rolling Stones« wie »die sprichwörtliche Teegesellschaft im Pfarrhaus«, schrieb der englische Schriftsteller Nik Cohn 1969 in seiner Musikgeschichte »Pop From The Beginning« (deutscher Titel »AWopBopaLooBop ALopBamBoom«, 1971).
Das Personal der Band wechselte häufig. Schlagzeuger Vic Prince musste später wegen seines exzessiven Alkoholkonsums entlassen werden. »Wenn Trommler trinken, werden ihre Hände weich«, meinte Phil May dazu, »ihre Köpfe denken es, aber ihre Hände können es nicht«. An dem Abend im Bielefelder »Star-Club« trommelte Prince auf allem, was ihm in die Quere kam. In der Pause stand er an der Bar und trommelte dort ohne Unterbrechung weiter.
Gegen 22 Uhr ging das Saallicht für einen Augenblick an. Das war ein Warnsignal für Minderjährige. Die Typen vom Jugendschutz rückten an und wollten Ausweise kontrollieren. Wir schlüpften über die Kneipe aus dem Etablissement und hasteten auf den gegenüberliegenden Friedhof. In diesem sicheren Versteck warteten wir, bis die Schnüffler abzogen und ein paar Teens abschleppten, die nicht schnell genug entkommen konnten.
Wir gingen wieder zurück in den Star-Club, und die »Pretty Things« spielten das nächste Set. Bis nachts um eins ging die wilde Show, und sie wäre wohl noch stundenlang weiter gegangen. Doch die Bielefelder Polizei rückte vor und setzte die Sperrstunde durch.
Die »Pretty Things« schafften es nach jenen wilden Zeiten nicht, erneut die Hitlisten zu stürmen. Sie experimentieren, schufen mit »S.F. Sorrow« die erste Rockoper der Flower-Power-Ära und blieben durch immer neue Auftritte im Gespräch. Bis Ende 2019 tourten Phil May und Dick Taylor mit der Band durch Europa. Der Star-Club Bielefeld hatte bereits 1968 aufgegeben und seine Pforten geschlossen. Sein Erbe ging im Jaguar-Club Herford auf.
Seinen Ruf als Legende der Rockmusik verteidigte der Road Runner mehr als ein halbes Jahrhundert. Doch Alkohol, Drogen und ein ekstatisches Leben als Bühnenmusiker schwächten seinen Körper. Bei einem seiner letzten großen Auftritte mit Van Morrison wirkte er bereits angeschlagen.
Anfang der Woche brach sich Phil May bei einem Fahrradunfall die Hüfte. Unfallchirurgen operierten den 75-jährigen im Queen Elizabeth Krankenhaus Kings Lynn, Norfolk. Am 15. Mai um 7.05 Uhr am frühen Morgen erlag der Frontmann der legendären »Pretty Things« den Folgen der Operation. Der bisexuelle Rockstar hinterlässt seinen Sohn Paris May, seine Tochter Sorrel May und seinen Partner Colin Graham.
Eine spannend erzählte Jugendgeschichte. Die Gruppe und Phil May kannte ich bislang aber nicht, nur bei Dick Taylor triggerte irgendetwas. Jetzt weiß ich was.
Die haben damals schon in Münster und Hamm gespielt – aber du bist halt viiiiel zu jung für die Pretties.
Nicht nur das. Ich durfte nicht so, wie ich wollte. Für mich gab es das GRÜNHAUS damals und Steffi Stefans CINEMA mit angeschlossener LEEZE. Und das auch nur maximal einmal im Monat. Bin halt Davertnickel.
Wenn es nach dem Willen von Kirche, Schule und Elternhaus gegangen wäre, hätten wir nicht einmal die Namen unserer Helden gekannt. Ich habe Glück gehabt, weil meine Eltern früh resignierten und mich nicht aufhielten.