Papier dient Mila Vázquez Otero als Werkstoff für filigrane Skulpturen. Aus alten Zeitungen und Kleister formen die geschickten Hände der Skulpteurin zierliche Kleinplastiken und Figuren. Ruprecht Frieling besuchte die in Berlin lebende Künstlerin, die sich mit der Gestaltung von Papier-Maché einer weitgehend vergessenen Technik bedient.
Die Welt der Mila Vázquez Otero
Von Ruprecht Frieling
Die Altbauten im Herzen Charlottenburgs sind typisch für den Bezirk Berlins, in dem sich das verflossene Westberlin noch immer am deutlichsten gegen die Verschmelzung von Ost und West stemmt. Die gepflegt wirkenden gutbürgerlichen Wohnanlagen entstanden in der Gründerzeit. Teilweise existieren noch Seitenflügel und Gartenhäuser. Einige der Fassaden sind prächtig. Stuckausstattung suggeriert gediegene Wohnatmosphäre, liebevolle Sanierung und ein allgemeines Wohlfühlambiente. Erst an den ausgetretenen Treppenhäusern zeigt sich, wie viele hundert Menschen in diesen vier- bis fünfstöckigen alten Kästen wohnen.
Mila Vázquez Otero lebt in einer kleinen Wohnung im obersten Stock eines dieser Wohngebäude. Platz für ein eigenes Atelier gibt es dort nicht. Der Schreibtisch in ihrem Zimmer dient als Arbeitsplatz, die Küche ist Gesellschaftsraum. Dort schlürfen wir Tee, knabbern selbst gemachte vegane Plätzchen und sprechen über ihre Arbeit.
Skulpturen aus Papier-Maché
Die dunkelhaarige Spanierin modelliert Skulpturen aus Papier-Maché. Diese ursprünglich aus dem orientalischen Raum stammende Technik ist in Europa seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Krippenfiguren und Puppen wurden einstmals daraus gefertigt. Als preiswerter Werkstoff diente zum Ausklang des 18. Jahrhunderts das Material sogar zur Innen- und Außendekoration von Schlössern und Kirchen und ersetzte den teuren Marmor. Im 19. Jahrhundert erlebte das Material seine Blütezeit, schuf die Basis für tausende Arbeitsplätze und begründete im Saarland sogar eine Pappmaché-Dynastie.
Mit der Erfindung vollsynthetisch, industriell produzierter Kunststoffe wie Bakelit Anfang des 20. Jahrhunderts geriet die Kunst des Gestaltens mit Papier in Vergessenheit. Pablo Picasso und Georges Braque setzten dann im Jahr 1912 die entscheidende Zäsur. Erstmals verwendeten sie in ihren Zeichnungen und Bildern »kunstfremde« Materialien wie Papier, die sie ihrem ursprünglichen Kontext entnahmen. In ihrer Traditionsfolge sieht Mila Vásquez Otero ihr Werk.
Geschichte einer Leidenschaft
»Als Kind habe ich schon gern mit Ton gearbeitet und kleine Figuren gestaltet«, erzählt die 1978 im spanischen Galicien Geborene, »und in meiner Schulklasse war ich berühmt für meine Zeichnungen«. Dennoch dauerte es eine Weile, bis Mila Vázquez Otero Papier als ihr gemäßes Material entdeckte und ihre Kunstfertigkeit entfalten konnte.
Milas Vater war Schneider. Er liebte klassische Musik und hätte es wohl am liebsten gesehen, wenn das Töchterchen Musikerin geworden wäre. Die lernte dann auch brav Geige und Klavier. Doch nach dem Tod des Vaters und dem Abitur entschied sie sich für ein Studium der Kunstgeschichte.
Dies begann Mila in Santiago de Compostela und beendete es in Granada mit dem Master-Abschluss. Von dort zog sie im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms weiter nach Rom.
Die Liebe verschlug die zierliche Kunsthistorikerin schließlich nach Berlin. In der deutschen Hauptstadt jobbte sie in einer Galerie und hielt sich mit Spanisch-Unterricht über Wasser. Bei dem auf Kunst ausgerichteten Fernsehsender IkonoTV kuratierte sie Dokumentarfilme über Architektur und Kunst.
Doch obwohl sie in ihrer Wunschbranche tätig war, fehlte ihr etwas. Mila verzweifelte. Sie wusste aus eigenem Erleben, dass es mit zunehmendem Alter schwierig wird, einen langfristigen Job in einer Galerie zu finden. »Plötzlich dachte ich: Ich mache einen Kurs in einer Volkshochschule zum Thema Papier«, entschied sie temperamentvoll und traf damit ins Schwarze. Der Kurs entfachte ein inneres Feuer. Denn schon während der Weiterbildung entstanden vor ihrem inneren Auge Bilder der Arbeiten, die sie fertigen wollte.
Wie entstehen Papier-Skulpturen?
»Es ist nicht leicht, mit Papier zu arbeiten«, verrät Mila. »Das Material ist unflexibel und man kann nur in Etappen arbeiten. Vor allem die kleinen Figuren sind sehr schwierig.«
Die Skulptur wird von innen aufgebaut und geformt. Mila reißt Zeitungspapier in passende Streifen und Stücke, bestreicht das Material mit Kleister und legt es um eine Form von zerknülltem Papier. Sie klebt, faltet, knittert, presst, biegt, staucht, knickt, befeuchtet, modelliert, formt, spannt und schichtet das Material, das ihr als Tageszeitung ins Haus geliefert wird.
Schicht um Schicht entsteht und bald wird die gewünschte Form sichtbar. Größere Objekte werden im Inneren mit kleinen Metallstangen fixiert. Dann müssen die collagierten Papiere erst einmal ein paar Tage trocken, bevor weitergearbeitet werden kann. Aus diesem Grunde arbeitet die Künstlerin immer an mehreren Projekten gleichzeitig.
Ohne Pinsel, ohne Farbe
Im nächsten Arbeitsgang werden die Konturen der Plastik mit Schleifpapier nachgearbeitet. »Dann grundierst und lackierst du die Arbeit«, spinne ich den Faden weiter und erinnere mich an verschiedene Pappmaché-Arbeiten, die ich aus Museen kenne. Doch mit der Frage trete ich in ein Fettnäpfchen.
Mila funkelt mich empört an: »Ich bemale sie doch nicht!«.
Oooops! – Wie jetzt? »Aber wie entstehen denn sonst diese grandiosen Muster?«
»Ich arbeite ausschließlich mit Papier. Ich suche die Farben in den Papierfetzen und gestaltete alles ausschließlich daraus. Pinsel und Farben verwende ich grundsätzlich nicht.«
Gleich sehe ich mir ihre Arbeiten noch einmal genauer an und kann es kaum glauben. Die farbenfrohen Papiermaché-Skulpturen sind wie filigrane Mosaiken zusammengesetzt und wirken nur aus der Distanz wie gemalt. Tatsächlich sind die Plastiken komplett aus Papierfetzen gefügt. Ob es sich um Tiere, Büsten oder um eine Serie von Yoga-Positionen handelt: Milas Figurinen bestehen vollständig aus Papier, das am Ende des Trocknungsprozesses hart wie Holz wird. Das erinnert mich an Max Ernst, der selbst mit Papier arbeitete und die perfekte Collage mit dem perfekten Verbrechen verglich, denn »es fehlen die Indizien«.
Wo trifft man Mila?
Wie vertreibt man Kunstwerke aus Papier? Mila Vázquez Otero stellt auf Kunstmärkten aus, wo ich sie auch entdeckt habe. Diese Märkte bieten ihr den direkten Kontakt zum Menschen, sie spürt die Reaktionen der Besucher, genießt die Gespräche und auch die Anerkennung, die ihr für ihre Arbeit wichtig ist. Galerien verwehren diese direkte Möglichkeit und verlangen außerdem als Mittler happige Kommissionen, die verhindern, Kunst zu erschwinglichen Preisen anzubieten.
Über die individuelle Begegnung hinaus öffnet das Netz den Zugang zu Kunstfreunden in aller Welt. Auf der beachtenswerten Homepage der Skulpteurin finden sich Beispiele für die Serien, an denen sie bislang gearbeitet hat. In »Antitrophäen« schlägt sie umweltkritische Töne an, wenn sie eine Schildkröte zeigt, die sich im Plastikmüll verfangen hat und dem Untergang gewidmet ist. In einer anderen Arbeit trägt eine Eisbärin ihr Junges auf dem Rücken und treibt gefangen auf einer Eisscholle auf der Suche nach einem neuen Habitat.
Engagement für Natur und Umwelt
Als typisch für ihre positiv-kritische Sichtweise und ihr Engagement für Natur und Umwelt kann die fröhlich springende Kuh Erica gesehen werden. Durch einen Instagram-Post ließ sich Mila zu dieser Figur inspirieren. Eine Kuh, die sich nicht mehr erheben wollte, wurde kurz vor der Schlachtbank von Tierfreunden gerettet und erstmals in ihrem Leben auf eine grüne Wiese gelassen. Übermütig sprang das Tier über die Weide und vollführte Freudensprünge. »Die Kuh Erica ist für mich ein Beweis, dass Tiere nicht nur eigene Wünsche haben, sondern auch über ein emotionales Bewusstsein sowie Selbstwahrnehmung verfügen«, kommentiert Vázquez Otero.
Aktuell arbeitet die Skulpturenkünstlerin an einer Serie über Alltagsmenschen im Gewand mythologischer Gottheiten. Sie stellt Menschen, die ihr begegnen, in Verbindung mit einem mythologischen Gott dar. Lediglich über den Kopf oder durch Details will Mila zeigen, dass es sich um eine Gottheit handelt.