Kollegen, die sich vor die Schreibmaschine setzen und auf einen Rutsch druckreife Texte in die Tasten hauen, habe ich immer bewundert. Ich kenne Autoren, die es in einer einzigen Nacht geschafft haben, einen Science-Fiction-Roman zu verfassen und diese Leistung dutzendfach vollbrachten. Das Manuskript würdigten sie dann keines weiteren Blickes. Sie sandten es direkt an ihren Verlag, der es redigierte und herausgab. – Ich kann das nicht, aber um beim Schreiben kontinuierlich Leistung zu erbringen, nutze ich die klassische Regel »Nulla dies sine linea« = »Kein Tag ohne Zeile«.
Stets habe ich mich schwerer getan mit der Schreiberei als jene leichtfüßig über die Tastatur eilenden Kollegen. An manchen Sätzen fummele ich endlos, selbst kürzere Texte schreibe ich mitunter mehrfach um und feile am Ausdruck. Wer derart viel Energie in sein Geschreibsel fließen lässt, träumt zwangsläufig davon, ein wenig schneller schreiben zu können, kurz: produktiver zu sein und den inneren Schweinehund, der sich liebend gern aufs Sofa legen möchte, zu überwinden. Der Vergleich mit Thomas Mann, von dem behauptet wird, er habe für manchen Satz ein bis zwei Wochen gebraucht, tröstet dabei nicht wirklich.
Nulla dies sine linea
Ich gestehe, ich habe bisweilen zu allem Lust, nur nicht zum Schreiben. Dabei versuche ich mir schon optimale Bedingungen zu schaffen, damit die Sache flutscht. Ruhe, Getränke und Süßigkeiten sollen den Workflow fördern. Doch dann kommt der Reiz, schnell ein paar Mails lesen und beantworten zu müssen, in die Kneipe von Facebook zu gehen und einen Absacker bei Twitter zu nehmen.
Doch genau das ist die Krux am Beruf des Autors: Er ist zum Schreiben verflucht, ob er nun Lust hat oder nicht.
Jeder gute Vorsatz braucht eine Losung. »Nulla dies sine linea«, lautet mein entsprechendes Motto, das übrigens von einem Römer namens Plinius stammt, der offensichtlich wesentlich disziplinierter arbeitete als ich. Dieser Gaius Plinius Secundus d. Ä.war ein Universalgelehrter, der vor zweitausend Jahren lebte und von dessen zahlreichen Schriften das Werk »Naturalis historia« (»Die Geschichte der Natur«) erhalten geblieben ist.
Kein Tag ohne Linie
»Kein Tag ohne Linie«lautet die wörtliche Übersetzung der Devise, die ursprünglich für die Malerei stand, später jedoch vor allem auch in der literarischen Welt Einzug hielt und die Notwendigkeit des täglichen Lesens und Schreibens betont.
Im 35. Buch seiner Naturgeschichte kommt Plinius ausführlich auf die Malerei zu sprechen, eine Kunst, die einst als »nobilis«galt, bevor sie im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Rom von Blattgold und Marmor verdrängt wurde. Bei der Beschreibung berühmter Maler und ihrer Werke bemerkt der Gelehrte, wie wichtig ihm die Darstellung der Entwicklung der Malerei sei. Er erwähnt den Griechen Apelles als größten Maler der Antike und beschreibt dessen kollegialen Wettstreit mit seinem Landsmann Protogenes, bei dem es darum ging, wer die feinere Linie malen könne. Apelles hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, niemals einen Tag vergehen zu lassen, ohne sich durch das Ziehen einer Linie in seiner Technik zu vervollkommnen.
Im Hause Protogenes habe sich Apelles in Abwesenheit des Hausherrn durch eine mit dem Pinsel gemalte Linie von höchster Feinheit vorgestellt. Diese versuchte der Hausherr seinerseits, nachdem er allein aufgrund der Qualität der gemalten Linie den Urheber identifiziert hatte, mit einer noch feineren Linie zu übertreffen. Schließlich ergänzte Apelles die vorhandenen beiden Linien mit einer dritten, und so ging es lustig weiter. Das tägliche Malen einer Linie wurde zum Sprichwort: »Nulla dies sine linea – kein Tag ohne Linie« heißt es seitdem und gilt vielen Künstlern und Literaten als Richtschnur.
Der Maler Paul Klee brachte es allein in seinem vorletzten Lebensjahr auf zwölfhundert tagebuchartige Arbeiten. 1938 notierte er den berühmten Satz aus der »Historia Naturalis«in seinen Oeuvrekatalog unter der Werknummer 365, einer Zeichnung mit dem Titel »Süchtig«.
Klees Arbeit »Kein Tag ohne Linie« gilt als bestimmendes biografisches Merkmal des Expressionisten und steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung seines Spätwerks. Es scheint, als habe Klee wie wild gegen den nahenden Tod angemalt.
Kein Tag ohne Zeile
War die tägliche »Linie« ursprünglich ein feiner Pinselstrich, so wurde er in Folge gern erweitert gebraucht. Philosoph Friedrich Nietzsche pflegte den Leitspruch, und Schriftsteller Emile Zola ließ ihn als persönliches Motto über dem mächtigen Kamin in seinem Arbeitszimmer anbringen. Wer das zum Museum erhobene Domizil des Schriftstellers in Médan nahe Paris besucht, und sein Arbeitszimmer bewundert, erfährt, dass der Autor jeden Tag zwischen neun und dreizehn Uhr am Schreibtisch zu finden war, um mindestens vier bis fünf Seiten zu schreiben. Der Mann war produktiv: Ohne eiserne Disziplin hätte Zola es kaum auf mehr als zwanzig umfangreiche Romane gebracht.
Literaturkritiker Walter Benjamin greift in seiner Arbeit »Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen«den Gedanken von Plinius als These auf: »Nulla dies sine linea – wohl aber Wochen«. Damit unterstreicht er die Notwendigkeit, jeden Tag, und das sind sieben Tage pro Woche, schöpferisch tätig zu sein. Ab und zu aber seien kreative Urlaube gestattet, die ein Atemholen ermöglichen.
In einer weiteren These führt er dazu aus: »Höre niemals mit Schreiben auf, weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) einzuhalten oder das Werk beendet ist«.
Danke, Walter Benjamin! So gesehen bin ich auf einem guten Weg. Schauen wir mal, was mir morgen vor die Tasten kommt. Oder sollte ich erst einmal Kreativurlaub machen?
Prinz Rupi
Als alte Werberin habe ich gelernt: Man darf nicht auf „die Idee“ warten. Besser Müll produzieren als gar nichts. Müll kann man immer noch umschreiben, aber man programmiert beim Produzieren das Gehirn auf ein bestimmtes Thema und irgendwann kommt „die Idee“ dann wie von selbst. Aber es ist eben nichts anderes als ARBEIT!
Ich empfinde den Gedanken des Plinius auch als Handlungsempfehlung. Schreiben ist Arbeit, ist Tagewerk.
Hallo,
mein Name ist Sarah und ich habe ein Problem:
Ich bin süchtig. Schreibsüchtig. Ich kenne diesen Zwang zu schreiben. Als Notwendigkeit. Damit ich den Kopf freibekomme und nicht bei anderen Dingen da sitze und Löcher in die Luft starre.
Trotzdem kommt es vor, dass ich über „längere“ Phasen (die letzte war umzugsbedingt mehrere Wochen) nicht schreiben kann. Das Ergebnis, wenn ich mich dann wieder hinsetze: Ich bin eingerostet, habe das Gefühl, unfähig zu sein, einen einzigen Satz vernünftig „zu Papier“ zu bringen.
Ich brauche dann mitunter Tage, die ich nur auf die Datei starre (und keine tausend Wörter pro Tag schaffe), bis ich wieder den richtigen Flow habe. Ein schrecklicher Moment übrigens, denn mein Kopf rattert ja weiter. Spuckt Szene nach Szene aus. Aber die Finger wollen nicht folgen.
Und deshalb schreibe ich (fast) jeden Tag.
Dankeschön, Sarah!
Ach, als Motto gesetzt hätte ich mir den Spruch längst. Klappt trotzdem nicht immer (derzeit aber besser). Und ich nehme das sehr wörtlich – wenn wenig geht, reicht eben eine Zeile (oder ein Satz oder ein Absatz). Mehr nehme ich mir nie vor. Hauptsache, das Dokument öffnen und ETWAS schreiben. Meist wird es ohnehin von selbst mehr.
Schwierig wird es, wenn ich an mehreren Texten gleichzeitig arbeite und mich aus Zeitgründen für einen entscheiden muss. Die anderen rutschen dann gern ins Vergessen.
Außerdem bin ich sehr schnell entmutigt und neige dazu, mich von der Größe der Aufgabe ins Bockshorn jagen zu lassen.
Hauptsache, du übst dich in der Kunst und im Handwerk des Schreibens. Alles andere findet sich von selbst .
wie du weißt, bin ich eher der nicht-autor, aber dafür auf andere art kreativ.
als ich deinen exkurs über email-lesen las, habe ich erstmal meine emails gecheckt, es war wie ein zwang.
für den kommentar habe ich mir noch ein wenig süßkram geholt.
ansonsten halte ich es gerne mit plinius, obwohl mir trotz lateinischer grundbildung, dieser satz von ihm nicht bekannt war. es ist eben dieses „übung macht den meister“ oh gott wie ich diesen spruch immer noch hasse.
aber irgendwie hilft es mir.
ich habe einen täglichen plan morgens mit dem ersten tee, aber lange nach dem ersten hahnenschrei widme ich mich der finnischen sprache, gefolgt von einem blogbeitrag und dann meiner künstlerischen tätigkeit, die ich salopp „pixeln“ nenne, also das erschaffen von digitaler kunst. kann oft auch ganz schön mühsam sein, weil um das was ich brauche, immer soviel hintergrund und fremdlinien sind 😀
oft bastele ich diesen plan um die bedürfnisse meiner kunden rum. aber es gibt mir struktur und halt und ich kann mich weiter entwickeln.
also stay strong my prince, du schaffst das und kreativurlaub ist im moment gestrichen.
kannste im herbst machen 😀
danke für deinen erhellenen beitrag und danke für das kommentarabo
Das war ein wenig Bastelarbeit mit dem Abo, aber manchmal braucht man einen Tritt von aussen und setzt sich dann erst in Bewegung. Dafür DANKE!
immer gerne
solche „tritte“ kann ich gut verteilen, bin da experte drin.
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