»Büchermachen ist ein Vergnügen«
Verleger Martin Regenbrecht im Interview zu Unternehmensgeschichte, Verlagspolitik und Neuerscheinungen.
Ruprecht Frieling: Du bist von Beruf Sachbuchlektor und betreibst nebenbei noch seit zehn Jahren einen Buchverlag. Wie verrückt muss man sein, in der heutigen Zeit einen Verlag gründen zu wollen? Hast du geerbt, Martin?
Martin Regenbrecht: Nein, leider nicht. 2012 haben wir diese Idee im Freundeskreis entwickelt. Wir wollten »Schätze heben«. Der Ausgangsgedanke war, vergriffene Werke, die es aber eigentlich wert sind, wieder gelesen zu werden, dem Publikum zugänglich zu machen. Es war die Zeit, in der E-Books aufkamen und alle vermuteten, dass sich der Buchmarkt sehr stark in Richtung E-Books entwickeln würde. Deswegen haben wir gedacht, wir gründen einen E-Book-Verlag. Bei E-Books hatten wir auch nur geringe Produktionskosten und konnten somit anfangen.
Ruprecht Frieling: Die Neugründung trug den wunderbar-programmatischen Namen »Elektrischer Verlag«.
Martin Regenbrecht: Genau. Weil wir anfangs nur elektronisch veröffentlicht haben. Es hat sich dann aber gezeigt, die Prognose über die Entwicklung der E-Books war zu optimistisch. Es wurde einmal erwartet, dass E-Books bald die Hälfte des Buchmarktes ausmachen würden, und das ist mitnichten der Fall gewesen und wird es wahrscheinlich auch nie. Wir haben uns deshalb entschlossen, unsere Bücher auch zu drucken, und neben alten vergessenen Titeln auch neue, aktuelle Titel herauszubringen von lebenden Autoren. Hinzu kam: Die Idee, alte vergriffene Titel wieder zugänglich zu machen, hatten parallel zu uns viele andere auch. Es entstand das Projekt Gutenberg, es gab die Volltextbibliothek Zeno.org und viele weitere Verlage, die das auch taten.
Ruprecht Frieling: Mit welchen Titeln seid Ihr gestartet?
Martin Regenbrecht: Das damals bevorstehende Jahr 2014 und die hundertjährige Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkrieges hat uns auf die Idee gebracht, eine Reihe zum Thema Erster Weltkrieg aufzulegen. Wir haben wunderbare Titel entdeckt, die es wirklich wert sind wiedergelesen zu werden, wie z.B. »Das Joch des Krieges« von Leonid Andrejew oder den »Heeresbericht« von Edlef Köppen.
Ruprecht Frieling: Das waren Erlebnisberichte?
Martin Regenbrecht: Das sind natürlich Antikriegsbücher! Also, es sind realistische Texte, und dadurch automatisch Antikriegsbücher. Köppen sticht ein bisschen heraus, das ist ein protokollarischer Montageroman, der sehr viele Zeugnisse aufnimmt wie tatsächliche Heeresberichte, also abgetippte Befehle des Kaisers. Oder Briefe, die jemand von der Front nach Hause geschickt hat. Bis hin zu Speisekarten, was irgendwelche Offiziere zum Beispiel zu Silvester gegessen haben. Das dann montiert mit den persönlichen Berichten des Soldaten. Der »Heeresbericht« ist ein großartiges Werk. Und Leonid Andrejew ist Weltliteratur.
Ruprecht Frieling: Der Erste Weltkrieg wurde in Deutschland von deutschen Intellektuellen und Künstlern am Anfang sehr begrüßt. Viele haben sich mit Begeisterung freiwillig gemeldet, sich in die Schlacht geworfen und ihr Leben gegeben. Der Gedanke des Pazifismus machte sich in den bürgerlichen Schichten erst allmählich durch. Spiegelt sich das in diesen Büchern?
Martin Regenbrecht: Das wird genau reflektiert. Beispielsweise bei Eduard von Keyserling, der den Beginn des Krieges beschreibt als ein Gewitter, das über der Landschaft schwebt. Der Leser erahnt nur, was kommen wird, die Begeisterung wird dargestellt, aber auch schon die drohenden Schrecken angedeutet. Wir hatten auch einen Titel von Karl Kautsky, der damals vom deutschen Außenministerium beauftragt wurde, die Ursachen des Ersten Weltkriegs anhand der Dokumente des Auswärtigen Amtes zu untersuchen. Er kommt zu dem klaren Urteil, dass die Deutschen eindeutig schuld sind am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und dafür wurde er stark angefeindet.
Ruprecht Frieling: War es klug, im Jahre 2014 noch einmal diese Bücher verlegen zu lassen?
Martin Regenbrecht: Ja, da gab es Interesse. Weil es auch als Serie angelegt war, hat das gut funktioniert, da haben wir etliche verkauft. Dann gab es 2018 eine weitere Welle zum hundertjährigen Ende des Krieges, da haben wir Titel aus dieser Reihe nochmal gut verkauft.
Ruprecht Frieling: Ihr habt dann auch aktuelle Titel ins Programm genommen und den Verlagsnamen geändert.
Martin Regenbrecht: Wir waren ursprünglich vier befreundete Gründer, ich bin übriggeblieben und habe den Verlag umbenannt in »Regenbrecht-Verlag«.
Ruprecht Frieling: Ich vermute, du kannst vom Verlegen kaum leben und bist weiterhin als Lektor tätig?
Martin Regenbrecht: Bücher verlegen ist für mich eine Liebhaberei, ich denke da leider nicht sehr marketingorientiert. Würde ich mehr Werbung, Zielgruppenanalyse und Öffentlichkeitsarbeit machen, dann könnte ich viel mehr umsetzen, aber dazu bin ich nicht der Typ. Das ist schade, weil viele Titel eine größere Leserschaft verdient hätten.
Ruprecht Frieling: Immerhin gibt es Bücher aus dem Regenbrecht Verlag online und offline, also auch im stationären Buchhandel. Wie lieferst du aus?
Martin Regenbrecht: Ich lasse die meisten meiner Titel bei BOD herstellen, die beliefern dann den Buchhandel auf Bestellung. Damit bin ich in allen großen Katalogen vertreten. Es gibt auch einen Shop auf meiner Webseite, über den man direkt beim Verlag bestellen kann.
Ruprecht Frieling: Du tütest noch selbst ein und schleppst die Päckchen zur Post. Lebst du in einem Bücherlager?
Martin Regenbrecht: Ja, kann man so sagen. Vor zwei Jahren mal habe ich mal eine Auflage hergestellt, es war ein aufwendiger Bildband der Alpinfotografen Gyger und Klopfenstein, der inzwischen leider vergriffen ist.
Ruprecht Frieling: Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen. Großartige Bilder! Ist das dein bisheriger Bestseller?
Martin Regenbrecht: Auf jeden Fall. Ich habe dann vor drei Jahren noch mal ein Experiment gemacht und die Erzählung »Taifun« von Joseph Conrad selbst übersetzt, weil mir die vorhandenen Übersetzungen nicht gefielen. Außerdem bin ich überzeugt: Conrad ist ein extrem lesenswerter Autor, einer der ganz Großen in der englischsprachigen Literatur.
Ruprecht Frieling: Conrad hat die Südsee durchquert und darüber geschrieben.
Martin Regenbrecht: Er ist zur See gefahren, er war jahrzehntelang auf der ganzen Welt unterwegs, bis er sich dann als Schriftsteller zur Ruhe gesetzt hat. Das Spezielle an ihm ist, dass er erst als Erwachsener angefangen hat, Englisch zu lernen; wie es heißt anhand einer alten Bibelausgabe von seinem Kapitän, die in einem alten Englisch, so wie unsere Luther-Bibel, geschrieben war. Entsprechend metaphorisch und altertümlich ist manchmal seine Sprache. Er schreibt ausgesprochen bildhaft und verwendet ungewöhnliche Ausdrücke. Ich habe sogar von englischen Muttersprachlern gehört, dass er auf Englisch schwer zu lesen ist.
Ruprecht Frieling: Ich kenne Joseph Conrad nur auf Deutsch. Aber der Autor stellt natürlich eine besondere Anforderung an dich als Übersetzer dar.
Martin Regenbrecht: Die Schwierigkeit bestand darin, eine Sprache zu finden, die einerseits metaphorisch und andererseits nicht zu pompös ist, wie man das im 19. Jahrhundert mochte. Es musste eine Sprache sein, die wertschätzt, dass der Text über hundert Jahre alt ist, die aber nicht versucht, eine Vintage-Sprache zu sein. Und die auch versucht, eigene Metaphern und Bilder zu finden. Das war so eine kleine Gratwanderung, aber auch ein großer Reiz dieser Aufgabe, und das hat mir besonders viel Spaß gemacht.
Ruprecht Frieling: Der Übersetzer Martin Regenbrecht hat aktuell ein Wahnsinnsprojekt auf dem Tisch: Girolamo Cardano, ein Universal-Gelehrter der Renaissance, der ein tausendseitiges Buch geschrieben hat. Du überträgst das allerdings nicht aus dem lateinischen Original, sondern aus dem Englischen direkt in die deutsche Sprache.
Martin Regenbrecht: Ich bin zufällig auf Cardano gestoßen und habe mich gewundert, wieso ich den Namen noch nie gehört hatte. Laut Wikipedia ist er »einer der letzten Universalgelehrten der Renaissance«. Einzig bekannt ist noch die Kardanwelle, die nach ihm benannt ist. Dann habe ich gestöbert und festgestellt, es gibt nichts von ihm auf Deutsch, bis auf seine Autobiografie, die ist 1914 schon mal übersetzt worden. Die war nicht mehr lieferbar, deshalb habe ich die zuerst rausgebracht.
Ruprecht Frieling: Der Titel lautet bei dir »Das Leben des Girolamo Gardamo von ihm selbst geschrieben«.
Martin Regenbrecht: Der Titel der ersten deutschen Ausgabe lautete anders, aber ich habe das in Anlehnung an Cellini so genannt …
Ruprecht Frieling: Cellini?
Martin Regenbrecht: … Ein großer Renaissancekünstler, der seine Autobiografie »Das Leben des Benvenuto Cillini – von ihm selbst geschrieben« genannt hat. Goethe war ein Fan von Cellini, so dass er den Text übersetzt hat, den habe ich vor einigen Jahren aufgelegt. Und als kleine Hommage an Cellini und die Künstler der Renaissance habe ich den Cardano-Titel in Anlehnung gewählt. Der ursprüngliche lateinische Titel heißt: »De propria vita«, also vom eigenen Leben. Da fühlte ich mich berechtigt, einen eigenen, anderen Titel zu wählen als den der deutschen Ausgabe von 1914.
»Mehr als genug war mir, dass mir so vielerlei fehlte: Ich hatte kein gutes Gedächtnis, keine Kenntnis des Lateinischen, wenigstens in jüngeren Jahren, eine schwache Gesundheit, keinen Nutzen von Freunden und Familie, ein langjähriges geschlechtliches Unvermögen, keinerlei sympathische Züge, nicht die geringste gewinnende Anmut, Kinder, die nicht einmal das Mindestmaß an gesundem Menschenverstand besaßen. Dafür war ich nun beglückt mit einem furchtsamen Charakter, mit ewigen Prozessen und Streitereien, kränklichen Eltern; und lebte zu einer unruhvollen Zeit der Kriegswirren und Ketzereien.« Girolamo Cardano
Und ich habe dann gesucht, ob es denn andere Bücher von ihm in einer modernen Sprache gibt. Er hat geschrieben über Wahrscheinlichkeitstheorie, Spieltheorie, Astronomie, Mathematik, Medizin. Über alle möglichen Themen hat er hunderte von Büchern verfasst. Es gibt, abgesehen von der Autobiographie, kein weiteres auf Deutsch und kaum etwas in anderen modernen Sprachen. Bis ich dann auf eine englische Ausgabe gestoßen bin, die 2013 erschienen ist, von Cardanos Hauptwerk »De Subtilitate«, also »Über die Feinheit«. Das übersetze ich derzeit ins Deutsche.
Ruprecht Frieling: Und das wird noch 2023 auf den Markt kommen?
Martin Regenbrecht: Das ist der Plan.
Ruprecht Frieling: Warum sollte ich als Leser einen derartigen Schinken lesen, was gibt mir das?
Martin Regenbrecht: Cardano sagt selbst, es sei die »vollständige Darstellung des gesamten Universums in einem Band«. Und es sei »ein Buch, in dem allein das Große, Schwierigste und Schönste verfolgt werden soll«. Mit dem Ergebnis »dass der, der das hier Geschriebene begreift, eine vollkommene und vollständige Kenntnis sämtlichen Wissens haben wird«. Das klingt doch nicht schlecht, oder? Es ist ein Rundumschlag über das gesamte Weltwissen seiner Zeit, der Renaissance. Man kann damit tief in das Denken und die Wahrnehmung der Renaissance eintauchen. Er schreibt über alle Dinge, die auf der Welt existieren. Er schreibt über die Mechanik des Himmels, über die Metalle, Pflanzen, Tiere, sehr viel auch über die kleinen Alltagsdinge. Er erklärt, was man beim Bau von Wasserleitungen oder Kanonen beachten muss, wie man gefälschte Edelsteine erkennt, welche Arten von Gift es gibt, und wie man damit umgeht. Unendlich viele kleine Beschreibungen von alltäglichen kleinen Dingen, das macht es auch spannend.
Ruprecht Frieling: Was erfahren wir in der Autobiografie über diesen Herrn Cardano? War das ein Stubenhocker, ein Schreibtischgelehrter, der sich lebenslang einmauerte wie sein Zeitgenosse Robert Burton, der Autor von »Anatomie der Melancholie«?
Martin Regenbrecht: Cardano war von der Ausbildung her Arzt, und er war ein streitbarer Mensch. Er hat sich häufig mit seinen Kollegen angelegt, deshalb wurde er nicht in die Mailänder Ärztekammer aufgenommen, er durfte lange Zeit nicht praktizieren. Er wurde Professor, bekam aber niemals Gehalt, weil die Zeiten schlecht waren. Es war Krieg, es herrschte die Pest, es war im Grunde das Ende der Renaissance. Die Fürsten und die norditalienischen Städte verloren zunehmend an Bedeutung und Reichtum, der ja die kulturelle Blüte der Renaissance ermöglicht hatte. In dieser Zeit hat Cardano gelebt und sich schließlich europaweit einen Namen gemacht als Hofarzt an Königshäusern. Sogar der Papst wollte ihn als Leibarzt haben, worauf er aber keine Lust hatte. Er hat lieber seine Studien betrieben. In der Zeit als mittelloser Professor hielt er sich mit Würfel- und Glücksspielen über Wasser, hat daraus eine Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt und eine Spieltheorie entworfen.
Ruprecht Frieling: Offenbar ein hochgebildeter bunter Vogel.
Martin Regenbrecht: Cardano war universell gebildet und ist viel herumgekommen, er kannte sich auch in Deutschland gut aus, in »De Subtilitate« gibt es viele Bezüge besonders zu Mitteldeutschland. Das ist schon ein außergewöhnlicher Mensch. Seine Autobiografie ist schonungslos offen, wie man das sonst nirgendwo kennt. Er schreibt über seine Fehler, seine Macken. Er offenbart sogar, dass er jahrelang impotent gewesen ist. Er schreibt andererseits auch über seine Erfolge, zählt auf, wen er geheilt hat und nennt die Autoren, die ihn irgendwo zitiert und gelobt haben. Es ist ein komplettes Panorama, ein thematisch aufgebautes Buch, keine chronologische Biographie. Er beschreibt sogar, was er gerne isst, und welche Art von Sport er treibt. Also ein ordentliches Panorama.
»Und so kommen mir die Leute, die gegen Beweise, Erfahrung und Wahrheit ankämpfen, vor wie solche, die nur gelernt haben, wie man Mauern einreißt, aber nicht, wie man einen Stein auf den anderen setzt, um zu bauen.« Girolamo Cardano
Ruprecht Frieling: Das wird dann der Knaller des Verlagsjahres werden?
Martin Regenbrecht: Absolut! »De Subtilitate«, da bin ich jetzt seit einigen Monaten dran. Und es wird mich noch Monate kosten, bis es fertig ist.
Ruprecht Frieling: Wie darf man sich die Zukunft von Verleger Martin Regenbrecht vorstellen? Wirst du vielleicht auch Universalgelehrter?
Martin Regenbrecht: Cardano sagt über sein Buch, »dass der, der das hier Geschriebene begreift, eine vollkommene und vollständige Kenntnis sämtlichen Wissens haben wird«. Das wird bei mir nicht der Fall sein, schon deshalb, weil das meiste, das er beschreibt, inzwischen natürlich überholt ist. Es gibt ein paar Projekte, die ich noch im Hinterkopf habe, die ich gern machen möchte, aber die sind noch sehr unausgegoren.
Ruprecht Frieling: Wovon träumt der Verleger?
Martin Regenbrecht: Natürlich mal einen schönen Erfolg zu haben. Ein selbst verlegtes Buch in die Hand zu nehmen, ist eine tolle Sache. Aber wenn das dann noch viele andere Leute kaufen und lesen, hat das auch was für sich.
Ruprecht Frieling: Unter den rund 50 Titel deiner Backlist gibt es Bücher, die eigentlich einen Literaturpreis verdient hätten. Ich denke an Georg Schattneys »Argentinisches Roulette«. – Ein letztes Wort des Verlegers?
Martin Regenbrecht: Büchermachen macht viel Freude, ist ein großes Vergnügen, und ich möchte das auch weiterhin machen (lacht). Ja, ich möchte viele schöne Bücher herausbringen!
interessant, vielen Dank. Mir fielen „Die Füchse im Weinberg ein, die Entstehung von Amerika“, von Lion Feuchtwanger. lesenswert wie ich finde und auch nicht mehr aufgelegt. herzlich kiwi
Danke für den Tip!