Blasmusik erklingt. Gemessenen Schrittes betritt ein weißhaariger Herr die Bühne und schiebt ein schimmerndes Xylophon herein. Der Musiker in Anzug mit Weste, silberner Krawatte und Rolandnadel am Revers fasst die Schlegel und legt los. Es erklingt das Paradestück aller Xylophonspieler, der »Zirkus Renz«. Dann: Trommelwirbel! Der Virtuose zaubert eine Augenbinde hervor, legt sie an und spielt blind weiter. Applaus! APPLAUS! Der Solist genießt den Beifall. Er ist glücklich, immer noch vor Publikum spielen zu können, zumal er inzwischen mehr als neunzig Lenze zählt. Im Alter von 93 Jahren ist Helmut Rosenthal aka Rt Xyl-O-peer am 23.12.2022 von der Bühne des Lebens abgetreten.
Am 16. Januar 1929 gegen 12 Uhr strahlt für eine junge Mutter die Sonne, als sie glücklich mit ihrem Neugeborenen die Charlottenburger Klinik am Park verlässt. »Es war ein Regentag, aber das hat sie nicht wahrgenommen«, kommentiert eine schlohweiße Stimme. – Wer spricht denn da? – Es ist der Säugling aus der Trage, inzwischen ein hochgewachsener, schlanker Herr mit über neunzig Jahren. Es ist Helmut Rosenthal.
Helmut Rosenthal, mit dem ich im Garten seines 1965 erworbenen Grundstücks in Hermsdorf Kaffee trinke und den berühmten »Bürgermeisterkuchen« der Konditorei Laufer verdrücke, ist hellwach, definiert und besitzt einen wundervollen Humor. Wir plaudern über das Leben, die Freundschaft, Kunst und Musik, die gemeinsame Lieblingsinsel Mallorca, das Glück der späten Liebe. Ziel des Gesprächs: Ich möchte die Stationen, Wendepunkte und Lebensphilosophien des Musikers kennenlernen.
Ein biografischer Gedankenaustausch ist mitunter wirkmächtig. Selbst ein disziplinierter Schlagzeugspieler wie Rosenthal widersteht der anregenden Droge mit dem lockenden Titel »Erinnerungen« nur schwer. Detailgetreue Bilder aus dem Brunnen der Vergangenheit steigen auf, und der gebürtige Berliner stellt die in seinen Archiven erwachten Spiegelbilder vor.
Waldhorn und Pauke
Helmut Rosenthal entstammt einer Musiker-Familie. Die Eltern leben zu seiner Geburt im Eismond des Jahres 1929 im roten Wedding, doch der Nachwuchs soll in einer besseren Gegend groß werden. Die Familie zieht 1933 in die Edinburger Straße neben der Feuerwache am Schillerpark. »Englisches Viertel« nennt der Volksmund die im Stil der Neuen Sachlichkeit angelegte Großsiedlung der Moderne mit 888 Wohnungen nach Plänen des Architekten Erich Glas.
Der Großvater führt eine erfolgreiche Musikschule mit mehr als einhundert Schülern und führt das »Mandolinenorchester Napoli«. Vater Rosenthal übernimmt von ihm die Leitung des Orchesters und wird diese Aufgabe insgesamt 60 Jahre lang mit Hingabe ausfüllen. Der Rundfunk macht die muntere Truppe bekannt, und bald gibt es sogar Schallplatten der populären Tanzmusiker. Den Taktstock schwingt der Orchesterchef in der Freizeit, im Hauptberuf ist Vater Willi festangestellter Geiger an der Staatsoper.
Damit ist Helmuts Laufbahn vorherbestimmt: Der Junge soll wie die Vorväter ins Orchester. Ein Klavierlehrer wird ins Haus bestellt. »Helle« muss Klavier und Geige lernen, draußen spielen seine Kumpel.
Sein Lieblingsstück »Circus Renz« spielte Helmut Rosenthal auch mit verbundenen Augen. Video: Matthias Bastian aka Rt Hippie (53)
Mit zehn kommt er 1939 auf die Mackensen-Oberschule, die einen ausgezeichneten Musiklehrer beschäftigt. Inzwischen hat ein Psychopath aus Österreich das deutsche Volk in den Zweiten Weltkrieg gehetzt. Weil sogar die älteren Schüler auf Anweisung von Hitlers Paladinen Richtung Schlachtbank marschieren müssen, ist das Schulorchester unterbesetzt und nicht mehr spielfähig. So fehlt ein Waldhorn. Obwohl er von der großen Pauke träumt, stößt der zehnjährige Junge auf Anweisung des Vaters künftig erst einmal ins Horn.
Küsse am Klavier
Im Rahmen der »Kinderland-Verschickung« wird Helmut Rosenthal in die Pampa geschickt, wo keine Bombenabwürfe erwartet werden. Im Hause eines Zahnarztes entdeckt der Junge ein Klavier und lernt eine der angenehmen Seiten der Tonkunst kennen. Denn Knaben, die Musik machen, stehen beim schönen Geschlecht hoch im Kurs. Als Klein-Helmut Beethovens rondoartiges »Für Elise« in a-Moll spielt, öffnet sich ihm ein Herz. Eine der vier Töchter des Doktors wirft ein Auge auf den Jungen an den weißen und schwarzen Tasten. Sie knutscht den Pianisten. Man erwischt die Turteltauben, eine fette Ohrfeige ist die Quittung.
Vater Willi möchte den Sohn auf die Musikschule der Hitlerjugend nach Wandlitz schicken. Die hat indes einen grottenschlechten Ruf. Ab 1943 besucht der inzwischen Vierzehnjährige deshalb die gerühmte Orchesterschule der Hochschule für Musik in der Fasanenstraße, Stern’sches Konservatorium genannt, und schließt dort mit der Hochschulreife ab.
Nach einem Jahr beginnt der totale Krieg. Sogar Kinder werden zum sinnlosen Sterben zwangsverpflichtet. Auf dem Stettiner Bahnhof verrichtet Helmut Dienst. Bei einem Unfall brechen beide Handgelenke. Er ist außerstande, schweres Gepäck zu schleppen. Der Junge wird in die Kopieranstalt Andersch geschickt und lernt das Reproduzieren, Entwickeln, Vergrößern und andere Labortechniken.
Die neuen Kenntnisse kommen ihm 1945 zugute. Die siegreichen Russen fragen nach dem Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches«, wer Negative entwickeln kann. Helmut ist dazu in der Lage und wird mit kleinen Aufträgen betraut, für die er ein Fahrrad nutzen darf. Er besitzt sogar eine Bescheinigung, Botenfahrten mit dem Rad zu erledigen. So beschert ihm das Unglück mit dem Sturz und den gebrochenen Handgelenken neues Glück in einer sinnvollen Beschäftigung.
Die russischen Befreier Berlins erlebt er aus verschiedenen Blickwinkeln. Mal wird er an die Wand gestellt und nach Wertsachen durchsucht, mal schenken Offiziere ihm Geldscheine.
Leidenschaft fürs Xylofon
Musikalisch geht es weiter. 1947 gibt der junge Musiker sein Debüt im Schützenhaus in Birkenwerder nahe Berlin. Er spielt auf dem Xylofon! Vom Beifall und der damit verbundenen Anerkennung für sein Spiel berauscht, schaltet Rosenthal gleich am nächsten Tag eine Suchanzeige für ein Xylofon. Für dreihundert Mark erwirbt er ein reparaturbedürftiges Instrument, das sechzig Jahre später immer noch in Griffnähe steht.
»Möchtest du es sehen?«, lädt der alte Herr ein. – Was für eine Frage! – Rosenthal steht vom Sofa auf, als sei er zwanzig und betrete mit festem Schritt die Bretter, die die Welt bedeuten. Sein Feuer für die Musik, für sein Instrument, für die Bühne, für sein Publikum flackert auf.
Gern erinnert er sich an seine zahllosen Auftritte auf großen und kleinen Bühnen, bei Wohltätigkeitskonzerten, Gala-Abenden und Festveranstaltungen. Stets nahm er sein geliebtes Xylofon mit auf Reisen und schloss über seine Freude am spontanen Musizieren neue Freundschaften. Dabei begann sein musikalischer Werdegang mit dem Waldhorn …
Musiker an Berliner Opernhäusern
1947 eröffnet die Komische Oper Berlin. Rosenthal spielt vor und startet als Drittes Horn. Er ist 18 und damit volljährig. Musiker fehlen an allen Ecken, die meisten sind gefallen oder sitzen in Kriegsgefangenschaft.
Helmuts Vorbild heißt Walter Sommerfeld, ein mittlerweile verstorbener Solo-Xylofonist der Staatsoper, einstiger Kollege des Vaters. Der Junge übt »Die Lustigen Drei« und andere Sommerfeld-Hits. Alles bringt er sich an den verschiedenen Schlaginstrumenten selbst bei, ein geordneter Unterricht findet nicht statt.
Währungsreform 1948. Zigaretten sind die neue Währung, für die man alles bekommt. Rosenthal verkauft einem Engländer eine Mundharmonika für zwei Schachteln Zigaretten und einen Streifen Kaugummi. Und er kommt herum. Helmut trampt nach Rinteln an der Weser und besucht die Witwe Sommerfeld. Sie zeigt ihm Noten, Platten und Schriftverkehr aus dem Nachlass ihres Mannes Walter. An Bord einer französischen Dakota fliegt er zurück nach Berlin.
Der junge Herr war länger als angekündigt unterwegs. Die Stelle an der Komischen Oper ist zwischenzeitlich anderweitig vergeben. Auf Helmut Rosenthal wartet niemand. Heute würde jeder Musiker fassungslos fragen, wie eine derartige berufliche Chance ohne Alternative ignoriert werden könne. Doch fähige Instrumentalisten sind in der Nachkriegszeit gefragt, sie werden mit Gold aufgewogen. Viele von ihnen haben neben ihrem Hauptjob zusätzliche Engagements – vom nächtlichen Spiel in verqualmten Jazzclubs bis hin zur Unterrichtung von Nachwuchs.
Hilfesuchend wendet sich das Orchester der Staatsoper an die Hochschule. Der Orchestervorstand sucht händeringend Musiker. Rosenthal greift kurzentschlossen zu und spielt vor. Das künstlerische Betriebsbüro ist überzeugt. 1949 fängt Helmut als Schlagzeuger bei der Staatsoper an.
Schlagzeug hat Helmut im Studium als Hauptfach belegt. Schlagzeuger zu werden ist sein Wunschtraum. Was kann ihm Schöneres geschehen als staatlich angestellter Herr über Becken, Trommeln, Pauken, Klangholz und Perkussionsinstrumente zu werden! Über 50 Instrumente beherrscht er. Zwar bevorzugt er Melodie-Instrumente wie Marimbafon, Vibrafon und Xylofon. Aber er spielt alles, was im perkussiven Bereich benötigt wird.
Instrument mit Imageschaden
Der Einsatz von Glocken, Zimbeln, Kalbsfell, Holz, Glas und Metall ist stets eine Entscheidung des Komponisten, der diese Stimmen erst einmal in sich hören und dann zu Papier bringen muss. Kommt ein ungewöhnliches Instrument hinzu, das unter dem seltsamen Namen »Hültze glechter« vor rund fünfhundert Jahren als Beutegut von Kreuzrittern nach Deutschland einreiste, dann braucht es Tondichter, deren Ohren weit herumgekommen sind.
Das »Hölzerne Gelächter« hat zudem ein leichtes Imageproblem. Es wird 1538 vom Holzschneider Hans Holbein dem Jüngeren, als Skelett dargestellt, auf dessen Rippen der siegreiche Tod werbend trommelt. Auch der Name »Strohfidel« ist in jener Zeit gebräuchlich, weil die Klangstäbe auf Stränge aus Stroh gelegt wurden. Strohfideln sind im Zirkus beliebt und werden von Wandermusikanten gespielt.
Camille Saint-Saëns setzt als einer der ersten Komponisten das Xylofon für das Orchester ein. Damit schießt der Bekanntheitsgrad in die Höhe. Zwar erinnert der »Danse macabre« des Franzosen aus dem Jahre 1875 an einen Totentanz, aber durch das Stück wird das Instrument bekannt. Sogar in Humperdincks »Hänsel und Gretel« spielt das Musikinstrument eine Rolle.
Rosenthal kennt sämtliche Stücke der Musikgeschichte, in denen Perkussionsinstrumente benötigt werden. Béla Bartók, Igor Strawinsky, Edgard Varèse, Olivier Messiaen, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen sind nur einige, die das Schlagzeug zum Hauptträger des musikalischen Klanges machten. Aram Chatschaturjan setzt das Xylofon im »Säbeltanz« aus dem Ballett »Gayaneh« ein, und Carls Orffs »Carmina Burana« verlangt danach.
Das 20. Jahrhundert geht als Jahrhundert des Schlagzeugs in die Musikgeschichte ein.
Eine Mauer teilt die Stadt
Zwölf Jahre lang hält Helmut Rosenthal der Staatsoper die Treue. Die spielt damals im Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstraße, das Stammhaus Unter den Linden ist zerstört. Dann erfolgte die Teilung der Frontstadt. 56 Westberliner von insgesamt 134 sind der Staatskapelle geblieben, 54 Orchestermitglieder kündigen gemeinsam und bleiben endgültig im Westen.
Kurz nach dem Mauerbau im August 1961 beginnt der Instrumentalist in Festanstellung an der Stuttgarter Staatsoper. Das Haus hat in jener Zeit die besten Sänger Deutschlands. Doch ihn quält Heimweh nach seinem Berlin. Nach 4 ½ Jahren spielt der inzwischen 35-Jährige an der Deutschen Oper Berlin vor und wird als Schlagzeuger eingestellt. Helmut Rosenthal hat seine berufliche Erfüllung gefunden.
28 Jahre spielt er in der neu gebauten Oper an der Bismarckstraße vor bis zu 1.865 Zuschauern. Unter Intendant Götz Friedrich wird der Instrumentalist mit dem Titel »Kammervirtuose« für sein Lebenswerk geehrt. Doch im Dezember 1994 ist endgültig Schluss. Traurig, denn beim Neujahrskonzert hätte er gern mitgespielt, geht Helmut Rosenthal in den Unruhestand des Pensionärs. Insgesamt 45 Jahre war er als Orchestermusiker tätig und hat in dieser langen Spanne an allen Berliner Opernhäusern gearbeitet.
Der Lionel von Hermsdorf
»Mich haben die Leute den `Lionel von Hermsdorf´ genannt«, lacht der Xylofonist, »und dabei an den großartigen Jazzer Lionel Hampton gedacht. Neben meiner offiziellen Tätigkeit an der Oper habe ich Tanzmusik im französischen Offiziersclub gespielt, war Schlagzeuger in der Steglitzer Tanzschule Weissbarth und habe Jazz für den Landmann gespielt«, erinnert er sich.
Gern denkt er an den Unterricht und gemeinsame Auftritte mit dem zwanzig Jahre älteren Kurt Engel, einem bekannten Schlagzeuger und Komponisten, dessen Schwerpunkt Tanz- und Unterhaltungsmusik war.
Rosenthals Erinnerungen sprudeln. Seine Lebensgeschichte würde Bände füllen. Mit der Niederschrift hat er angefangen. Er nutzt eine Kofferschreibmaschine und tippt. Vor einer Aufzeichnung im Computer fürchtet er sich, er hat schlechte Erfahrungen gesammelt.
»Einmal die falsche Taste gedrückt, und alles ist weg«, ärgert er sich. Inzwischen weiß der Neunzigjährige, dass Daten gesichert werden müssen und dies automatisiert werden kann. Doch dieser »Cloud«, wo angeblich alles sicher lagert, misstraut er.
Das Alter Ego des Helmut Rosenthal
Zur Jahreswende 1969/70 trifft der Xylofon-Spieler Helmut Rosenthal eine Entscheidung, die sein künftiges Leben wesentlich mitbestimmen soll. Er folgt der Einladung eines Kollegen in einen Kellerraum in Steglitz, wo donnerstags Schlaraffen tagen. Der 41-Jährige kann anfangs nur wenig mit dem seltsamen Verein anfangen.
»Die ersten drei Abende waren nicht so berauschend«, erinnert er sich. Aber dann packt es ihn doch, und er wird Mitglied des Männerbundes, der Kunst und Freundschaft auf seine Fahnen geschrieben hat und weltweit zehntausend Mitstreiter zählt.
Als Knappe beginnt er bei der Berliner »Schlaraffia Lietzowia«, bald wird er Junker und schließlich feierlich zum Ritter geschlagen. »Ritter Xyl-O-Peer« heißt künftig das Alter Ego des Xylofon-Instrumentalisten, der schlaraffische Name nimmt direkt Bezug auf sein Lieblingsinstrument. »Und Peer passte als Adelsprädikat doch gut dazu«, schmunzelt der Ritter, der inzwischen durch seine vielen Besuche in anderen Reichen eine ellenlange Liste von Titeln eingesammelt hat, deren Wiedergabe jeden Rahmen sprengt.
Es gibt stundenlange Opern, die Perkussionsinstrumente nur kurz und selten einsetzen. Der Instrumentalist hat dann freie Zeit. Helmut Rosenthal nickt nie ein, wie es vor Jahren mal einem Dresdner Pauker in der Semper-Oper geschah. Der wurde von seinem Kollegen wachgestupst, weil er seinen Einsatz verpennt hatte. Rosenthal nutzt die Pausenzeit für seine Schlaraffiaden.
Ritterspiele, Kunst und Freude
Ein Schlagzeuger ist ein Präzisionsinstrument. Ohne gut geschmierte innere Uhrwerke und Taktgeber kann er seinen Beruf überhaupt nicht ausführen. »Timing« ist für Schlagzeuger alles. Aber an Donnerstagen verlässt Helmut Rosenthal die Oper mitten in der Aufführung und braust in seinem Wagen nach Steglitz.
Er parkt in der Treitschkestraße, möglichst nah an der Hausnummer 17, damit er schnell wieder zur Oper zurückkehren kann. Vor der Eingangstür ins Souterrain funzelt eine kleine Laterne. Darauf ist ein Uhu zu sehen. Der Besucher öffnet die Tür, Stimmen, Lieder und Lachen dringen aus dem Hintergrund.
Er entfaltet ein Gewand, das im Auto schon parat lag. Ein mit Abzeichen, Pins und Orden geschmückter gelbroter Umhang wird angelegt. Es folgt eine gewaltige gelb-rot-gestreifte Schärpe und jede Menge Amtsketten, wie sie sonst nur höchsten Würdenträgern gestattet sind.
»Ganz schön schwer, das Zeug«, erinnert sich Rosenthal und nippt am Kaffee. Dann verwandelt er sich flugs in eine Gestalt, die zwischen Hochschuldekan und Karnevalsprinz angesiedelt sein könnte. Das Kleid wird zur farbenprächtigen Rüstung, die Kappe zum schimmernden Helm, die Abzeichen und Ehrenzeichen zu diamantbesetzten »Ahnen«.
»Ritter Xyl-O-Peer« betritt als farbenfroher Paradiesvogel den lang gestreckten Raum, der bis unter die Decke mit Wappen, Abzeichen und Porträts bepflastert ist. An den Längsseiten stehen Tische, an denen ein, zwei Dutzend ältere Herren sitzen. Sie schauen aus, wie der Leser es erwartet: Jeder der Anwesenden trägt ein ähnliches buntes Gefieder, das sich in Schmuck und Farbigkeit vom Sitznachbarn unterscheidet.
Mit dem vorgegebenen Farbmuster sendet jeder Anwesende einen informellen Farbcode, aus dem die Herkunft des jeweiligen Ritters hervorgeht. Schlaraffische Ritter sind, solange sie zu essen und zu trinken haben sowie gut unterhalten werden, weltoffene und lebensfrohe Herren. Sie reichen wildfremden Rittern aus entfernten Reichen gastfreundlich die Hand und bitten zu Tisch. Genau so wie sie in jede Burg anderer Schlaraffen unaufgefordert eingeladen sind.
Ritter Xyl-O-Peer kommt nicht zu Fuß. Ein Ritter reitet ein! Sein Schlachtross schnaubt feurig und steigt auf. »Lulu!«, rufen ihm die Freunde erfreut zu, die schon seit Schlag sieben Uhr sippen. Sie kennen den immer gleichen späten und befristeten Ein- und vorzeitigen Ausritt ihres schlaraffischen Bruders. »Einreiter zwischen zwei Akten« taufen sie ihn mit einem Lächeln. Ein Schelm, wer dabei nicht an die Oper denkt.
Sogleich springt ein Knappe auf und trägt dem Herrn Ritter einen Baldachin hinterher. Diese Auszeichnung verdeutlicht, der Einreiter ist mit 50 Mitgliedsjahren im Bund der Schlaraffen ein Patriarch.
Schlaraffe seit 50 Jahren
»Xyl-O-Peer« gehört zum Urgestein des »Reychs Lietzowia«, das sich in der kalten Jahreszeit an jedem Donnerstagabend um 19 Uhr versammelt. Die Farben seiner Rüstung verraten indes, er gehört inzwischen dem »Hohen Reych Medina Mayurca« an, hinter dem sich unschwer die Baleareninsel Mallorca vermuten lässt. 1978 kauft er ein Haus in Alcudia und trägt aktiv zum Aufbau einer schlaraffischen Gemeinschaft auf der Baleareninsel bei.
Im ländlichen Städtchen Campos entsteht das neue Domizil der Schlaraffen. Neben einem mittelalterlichen Stadtkern verfügt Campos damit über eine Versammlungsstätte des Bundes. Ein ehemaliger Schweinestall wird umgebaut. Die finanziellen Mittel der Mitglieder sind bescheiden. Sie legen selbst Hand an.
Helmut Rosenthal fährt dreimal die Woche jeweils eine Stunde von Alcudia nach Campos und wieder zurück, um am Umbau des einstigen Stalles zu einer Burg mitzuarbeiten. Er investiert Freizeit und Kilometergeld, bis der neue Treffpunkt fertiggestellt ist und festlich eingeweiht werden kann. Aufgrund seiner engen Verbundenheit mit den Schlaraffen Mallorcas trägt Ritter Xyl-O-Peer Rapsgelb und Rosenrot, die Farben der Insel.
»In Arte Voluptas« (In der Kunst liegt das Vergnügen) lautet das Motto des 1859 in Prag gegründeten Schlaraffenbundes. Freundschaft, Kunst und Humor sind die drei Säulen des Ritter-Spiels, das alte Herren wieder jung macht. Rosenthal genießt den Bund vor allem im Alter, weil er ihm Kontakt, Freundschaften und Anerkennung sichert, die er mit Ausklang seiner beruflichen Verpflichtungen vermissen würde.
Freundschaft hält jung
»Ich habe in 50 Jahren Mitgliedschaft tolle Leute kennengelernt. In dieser Vielzahl derart faszinierende Leute kennenzulernen, war mir nur durch die Schlaraffia möglich«, erklärt der weißhaarige Ritter überzeugt. Und er hat durch seine Vorträge, Reden und »Fechsungen« in der »Rostra«, wie die kanzelartigen Bühnen der Burgen genannt werden, gelernt, Beklemmungen abzubauen.
Ein routinierter Bühnenmusiker mit Lampenfieber? »Ich war schon bei meinem ersten Auftritt schrecklich aufgeregt und habe alles durcheinandergebracht. Frei Sprechen habe ich als Xylofonist nie gelernt, insofern war die Schlaraffia eine gute Schule, für die ich dankbar bin.«
Seine Mitgliedschaft bei den Schlaraffen hat Helmut Rosenthal zu Fernreisen animiert. Gemeinsam mit anderen Rittern besuchte er sämtliche Reiche in Südamerika. »Zum Schluss wollten die fünfzig Dollar von mir haben«, erinnert er lachend. »Als Auszeichnung für die Besuche gab es den Orden `Stern des Südens´. Den trage ich seitdem an meiner Rüstung.«
Liebe im Alter
Der Musiker knabbert am Kuchen und wirft seiner Wonne Helga einen liebevollen Blick zu. Sie sitzt mit am Tisch und hört zu, dabei hat sie eine eigene bewegte Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. Ihr Vater war Freund seines Vaters. Als Kinder verreisten sie miteinander. In Kölpinsee an der Ostsee gewannen sie gemeinsam einen Strandburgen-Wettbewerb. Er war zehn, sie elf Jahre jung. Dann zog sie das Schicksal auseinander.
Helga lebte in Ost-, Helmut in Westberlin. Beide heirateten und verloren nach langen Ehejahren ihre Partner. Kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag besorgte sich Helmut über Umwege die Telefonnummer seiner Jugendfreundin. Er rief an, und dann ging alles blitzschnell. Er ließ einen Treppenlift in sein Haus einbauen und holte sie nach Hermsdorf. Hier leben sie zusammen und sind füreinander da.
Eine Liebesromanze im Alter: Kann es Schöneres geben? Doch das ist eine andere Geschichte, die uns vielleicht eines Tages seine Helga erzählt.
RIP.
Eine würdige Huldigung.
Ich kenne Rt Xyl-O-peer seit mehr als 20 Jahren und bin einer seiner weltweit verstreuten Freunde. Helmut war jederzeit bereit, seinen großen schlaraffischen und noch mehr seinen musikalischen und menschlichen Erfahrungsschatz zu teilen. Darauf verzichten zu müssen, tut weh. Ich bin sehr traurig.
Diesen wahrhaftigen und wohl durchdachten und empfundenen „Lebenslauf“ lesen zu dürfen, tröstet.
Ich sage dafür einen herzlichen Dank, verbunden mit einem stillen, aber dennoch gefühlt kräftigen Lulu für den Autor und unseren Xyl-O-peer.
Schlaraffen hört!
Ein wirklich Großer hat uns verlassen, / eine riesige Lücke bei uns hinterlassen.
Ein genialer Schlaraffe ist gen Ahall geritten,
mit seiner eindrucksvollen Kunst hat manche Sippung er bestritten.
Trauer einen jeden Sassen befäll,
dunkler geworden ist unsere Schlaraffenwelt.
mit tiefempfundenen Trauer-Lulu, Seng-krates, Adonisritter
Mit Helmut geht ein guter Freund von uns. Ich bin dankbar, seinen Weg über 10 Jahre mitgegangen zu sein. Helmut, wir vermissen Dich.