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Pressefotograf Jürgen Henschel bannte Zeitgeschichte auf Film. Sein berühmtestes Foto: Benno Ohnesorg stirbt in den Armen von Friederike Dollinger. Hier als Titelbild des FU-Spiegel 58, entnommen dem Ausstellungskatalog »Jürgen Henschel. Fotochronist im geteilten Berlin«
Dieses Foto hat Geschichte geschrieben: Aufgewühlt ruft eine junge Frau um Hilfe. Sie stützt den Kopf des sterbenden Studenten Benno Ohnesorg, der von dem Berliner Polizisten Kurras von hinten erschossen wurde. Der Fotograf der grausigen Szene heißt Jürgen Henschel. Zum 100. Geburtstag des Chronisten würdigt das Schöneberg Museum das Gesamtwerk des Bildberichterstatters.
2. Juni 1967 – Der blutige Auslöser der Studentenunruhen
Der 2. Juni 1967 verändert die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte. An diesem Tag ereignet sich in den Straßen West-Berlins ein Ereignis von erschütternder Tragweite: Unter einem wolkenverhangenen Himmel versammeln sich Tausende von Studenten vor der Deutschen Oper in Berlin-Charlottenburg. Sie protestieren gegen den Besuch des Schahs von Persien, Mohammad Reza Pahlavi. Die jungen Leute richten sich gegen die blutige Diktatur des Massenmörders und seine zahllosen Menschenrechtsverletzungen.
Die Luft ist geladen mit dem Ruf nach Demokratie und Freiheit. Doch die friedlichen Forderungen werden bald von der harschen Realität überschattet. Als der Schah vorfährt, springen bewaffnete »Jubelperser« mit Schlagstöcken und mit Nägeln gespickte Holzlatten aus den Begleitfahrzeugen. Wahllos prügeln sie auf die Demonstranten ein, die hinter Absperrgittern stehen. Zusätzlich greift die Polizei ein, und das Chaos nimmt seinen Lauf.
Denn die Berliner Polizei verteidigt nicht die friedlichen Demonstranten und schützt ihr Recht auf Meinungsfreiheit. Sie greift mit Tränengas und Schlagstock die Zuschauer an und prügelt wahllos auf sie ein.
Blut. Angstschreie. Gasschwaden. Verwirrung.
Die Demonstranten weichen zurück und flüchten in die Nebenstraßen vor dem Sturmangriff.
Henschel fotografiert den Tod Benno Ohnesorgs
Unter den Zuschauern steht der 26-jährige Benno Ohnesorg. Der junge Student zog erst kurz zuvor nach Westberlin, um sein Studium abzuschließen. Daheim wartet seine schwangere Frau. Der unbewaffnete und im Umgang mit Demonstrationen unerfahrene junge Mann flüchtet in die Krumme Straße. Er versucht, sich auf dem Parkplatz des Hauses Krumme Str. 66/67 in Sicherheit zu bringen.
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Bis zum letzten Hocker besetzt war ein Gesprächsabend am 22. Februar 2024 im Schöneberg Museum, als Prinz Rupi (rechts) und andere ehemalige Kollegen über den Fotografen Jürgen Henschel sprachen
Karl-Heinz Kurras, ein Polizist in Zivil, setzt ihm nach, zieht und entsichert die Dienstwaffe. Ohnesorg bettelt um sein Leben »Bitte nicht schießen« ruft er vernehmlich. Doch der Beamte kennt kein Pardon. Aus nächster Nähe jagt er dem jungen Mann eine Kugel in den Hinterkopf. Es ist wie eine Exekution.
Benno Ohnesorg sinkt getroffen zu Boden. Eine Blutlache bildet sich. Der junge Mann stöhnt. Er lebt noch. Eine junge Frau, Friederike Dollinger, leistet erste Hilfe. Fotograf Jürgen Henschel bannt die Szene auf Film. Der Hilferuf der jungen Frau, einen Krankenwagen zu rufen, wird von der Polizei verlacht. Ein Arzt, der helfen will, wird von Beamten, die sofort den Tatort abriegeln, als Kommunist beschimpft und abgewiesen. Ohnesorg verblutet und verendet im Schmutz der Straße.
Jürgen Henschel, der »Mann mit der Leiter«
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Zwei Fotografen im Getümmel der wilden 1968-er Jahre im damaligen Westberlin: Prinz Rupi (links) und Jürgen Henschel, der »Mann auf der Leiter« Fotos: © Frieling
Die Erschießung erschüttert die Stadt. Bereits am nächsten Tag, es ist Sonnabend, ziehen mehr als hunderttausend empörte Berliner durch die Straßen. Es beginnen Straßenkämpfe. Barrikaden brennen. Zur Aufheizung der Situation trägt bei, dass der Todesschütze von seinen Kameraden und der Polizeiführung durch Falschaussagen gedeckt und wegen »Notwehr« freigesprochen wird.
Inmitten der wogenden Mengen steht ein drahtiger kleiner Herr mit Brille auf einer dreisprossigen Aluleiter und fotografiert die Demonstranten. Das ist Pressefotograf Jürgen Henschel in seinem Element. Als »Mann mit der Leiter« trifft man ihn auf jeder kleinen und großen Veranstaltung. Seine Bilder werden in der linken Tageszeitung »Die Wahrheit«, dem Organ der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin (SEW), veröffentlicht.
Jürgen Henschels Fotos im Schöneberg Museum
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Verleger Martin Regenbrecht in der Ausstellung in der Schöneberger Hauptstraße 40/42 vor dem Bild, auf dem Fotograf Jürgen Henschel am 2. Juni 1967 im Tränengasnebel vor der Deutschen Oper steht und die Vorgänge dokumentiert
23.000 säuberlich beschriftete Negative von Jürgen Henschel befinden sich heute im Archiv der Museen Tempelhof-Schöneberg. Das ist der umfangreiche Nachlass des Bildreporters.
Das Stadtmuseum verfügt mit diesem Schatz über eine einzigartige Fotosammlung von Protestkultur, Stadtumbau und Alltag im damaligen Westberlin. Alle Fotos wurden noch analog mit Kleinbildfilm 24 x 36 mm sowie Mittelformat 6 x 6 schwarzweiß per Hand entwickelt und abgezogen.
Zum 100. Geburtstag des Fotografen zeigt das Schöneberg Museum 100 von Henschels Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den Jahren 1953 bis 1990. Sie erzählen Sozialgeschichte und spiegeln den dissonanten Zeitgeist der geteilten Stadt. Die Sonderausstellung ist bis zum 2. Juni 2024 im Schöneberg Museum zu sehen.
Prinz Rupi
ich habe die Geschichte von Jürgen Henschel mit Entsetzen gelesen und war wütend, als ich erfuhr, wie sich die Polizei verhalten hat. Man kann kaum glauben, dass so etwas in einer Demokratie geschehen kann – ein Mann wird von hinten erschossen und der Übeltäter, ein Polizist, kommt ohne Strafe davon. Was mich zusätzlich verwundert, ist, dass der Schah seine eigene Schlägertruppe mitgebracht hat, die ebenfalls heftig zugeschlagen hat.
Aber auch heute ist es noch so, dass die Polizei auf unschuldige Menschen einprügelt. In der Corona-Zeit konnte man täglich am Fernseher beobachten, wie Menschen, ob alt oder jung, über den Boden geschleift und in die Polizeiwagen gestoßen wurden.
Dankeschön, lieber Adolf!