Vom Bildschirm blickt ein Wettergott sorgenvoll auf seine fröstelnden Zuschauer und orakelt kühl: »Es wird bitter, bitter kalt. Es wird so schrecklich kalt, dass wir selbst nicht genau wissen, wie kalt es wirklich werden wird.« Zitternd hüllt sich das Fernsehvolk in warme Decken, nachdem zuvor schon Schreckensberichte aus Moskau den Auftritt von Väterchen Frost mit vierzig und mehr Minusgraden bebilderten. Hier stürzen schlecht gewartete Hallen unter der Last der Schneemassen ein und begraben Menschen, dort rasen Autos auf spiegelglatten Straßen ineinander und zerquetschen Leiber. Der Deutsche, der sich sonst nur noch bei Killerviren, Katastrophen oder Kriegen aus dem Schlummer schält, erwartet den Angriff der klirrenden Kälte und mummelt sich dick ein.
Machen wir das Beste aus dem Angriff der Natur, denkt sich mein Lebensglück und entscheidet: Wir fahren in die schneesicherste Region Ostgermaniens und bieten dem Chaos die Stirn. Das Erzgebirge liegt wenige Autostunden entfernt vor der Tür und lädt zum Entdecken ein.
Bei minus achtzehn Grad rollen wir durch eine verträumte Winterlandschaft, beziehen ein gemütliches Quartier und marschieren zum nächsten Skiverleih. Langlauf soll es sein. Das sei ein natürlicher Sport, der alle eingerosteten Körperregionen gleichmäßig beansprucht, wird mir versichert. Auf Skiern stand ich zwar zuvor noch nie. Doch ist der Geist erst einmal überredet, bleibt dem Fleisch kaum eine Chance.
Vor dem ersten Ausritt mache ich mich frisch. Als ich aus dem Bad komme, stockt mir der Atem. Auf dem Hotelbett türmt sich ein unförmiges Gebirge aus Thermohemden, langen Unterhosen, Fleecejacken, Rollkragenpullovern, dicken Socken, Skihosen, Anoraks, Mützen, Schals und Handschuhen. Es ist ein wahrer Mont Klamott.
»Was soll der Kram? Wo kommt das alles plötzlich her? Hast Du das Zeug etwa neu gekauft? Mir reichen meine Jeans!« Meine Traumfrau beruhigt mich. Sie hätte die Ausrüstung heimlich zusammen getragen, um mich nicht zu beunruhigen, und alles sei äußerst preiswert gewesen.
»Soll ich diese Klamotten tatsächlich anziehen?« Sie lächelt mich unwiderstehlich an. Nach lahmen Protesten stopfe ich mich mühsam in die warmen Kleider und verdoppele allmählich meinen Umfang. Im Spiegel blickt mir nach einer dreiviertel Stunde Umkleidezeit eine Mitleid erregende Mischung aus Luciano Pavarotti und dem Michelin-Männchen entgegen. Ich seufze ergeben. Ab geht es auf die Loipe.
Unter einer Loipe darf sich der ungelernte Skihase eine maschinell gespurte Bahn vorstellen, in der die schmalen Langlaufski geführt werden. Das geht angeblich kinderleicht, und im ersten Augenblick ist es das auch. – Huiiiiiiiiiii, schon rutsche ich los! – Mit langen Skistöcken stochere ich mal in der Luft und mal im Schnee herum. Nach ein paar steifen Bewegungen beginne ich zu gleiten und fühle mich bald wie Häuptling Leichte Feder. Klasse Premiere!
Vor mir zischt mein persönliches Langlauf-Luder die Loipe entlang. Ich will mir keine Blöße geben und stolpere ihr nach. Nach drei Minuten beginnt meine Nase zu laufen. Gelber Schnotten rinnt auf die Oberlippe. Voll eklig! Kurze Verschnaufpause, ein Taschentuch wird gezückt und ich schnaube kräftig.
Weiter geht es, urplötzlich sogar leicht bergauf. Nach zwei, drei schweißtreibenden Metern rutsche ich wieder zurück. Wie beherrscht man diese blöden Bretter? Ich bekomme Hilfestellung von meiner persönlichen Trainerin, die jetzt hinter mir geht, mich kontrolliert und Anweisungen erteilt.
»Schräg gehen, Bretter ankanten«, kommandiert das Luder. Woher weiß sie das so genau, sie hat doch zuletzt als Kind auf Brettern gestanden? Zwei wie Schneeflocken gleitende Wanderer überholen mich und grüßen freundlich: »Es ist nur dieser kleine Hügel, dann geht es sanft geradeaus«.
Nanu? – Das »zänkische Bergvolk« entpuppt sich als ausgesprochen nett und hilfsbereit. Hoffnungsfroh stapfe ich den Hang hinauf.
Oben angekommen werden zwei weitere Tempotücher voll gerotzt. Geschafft! Meine Dampfmaschine faucht. Weiße Schwaden zischen aus Mund und Nase. Volles Tempo! Majestätisch wie eine Elfe gleite ich ein paar Meter voran und lobe Langlauf, Loipen und die Liebe zum Leben. – Doch was muss ich sehen? Schon steigt ein weiterer Hang endlos in den Himmel!
»Machen Sie sich keine Sorgen«, ruft mir ein fescher Skifahrer zu, der elegant von oben herunter gewedelt kommt, »es ist nur noch dieser kleine Aufstieg, dann wird es flach«! Danke für die Auskunft, mir wurde die Loipe als »leicht« empfohlen.
Schweiß rinnt ins Thermokleid, ich bezwinge auch den zweiten Aufstieg. Dabei rudere ich mit den Stöcken, als wollte ich den Eichhörnchen die Augen ausstechen.
Wie skandierte einst Honecker, der verblichene Feudalherrscher über diese Region: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer«. »Honni, du machst mir mächtig Mut«, rufe ich dem roten Berggeist zu und reime in seinem Sinne: »Den Langläufer in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf«. – Jetzt will ich es wirklich wissen.
Wir laufen ein paar Kilometer auf der Kammloipe zwischen Deutschland und Tschechien. Eine verschneite Märchenlandschaft wie aus Zuckerguss erfreut Augen und Herz. Diese Winterstimmung macht den beschwerlichen Aufstieg vergessen.
Winterwald, wie bist du wundervoll!
Nach einer sanften Kurve verlassen wir den schneeweißen Highway und wenden uns wieder talwärts. Es folgt eine Rechtskurve und jetzt stockt mir der Atem: Himmel, hier geht es steil bergab! Fassungslos blicke ich in ein tiefes Tal, das sich unergründlich vor mir öffnet. Wie soll ich ohne Knochenbrüche und Blessuren nach unten rutschen?
»Schneepflug, Schneepflug!« befiehlt meine Traumfrau, die jetzt hinter mir fährt und dabei lautstark Anweisungen erteilt. Ihre ständigen Instruktionen gehen mir inzwischen gehörig auf den Keks. »Hör auf, mich zu nerven. Ich bemühe mich doch!«
Ich versuche, die Skier zu verschränken, doch die blöden Bretter gehorchen nicht. Stattdessen gewinne ich an Fahrt und überschreite bald die zulässige Höchstgeschwindigkeit für Anfänger. Ich schwanke wie die mit schwerem Schnee beladenen Tannen im Winterwind. Verzweifelt stochere ich mit den Stöcken im Leeren und sehe eine Linkskurve auf mich zukommen. Wie eine schwer beladene Lore, die auf stählernen Gleisen rollt, schieße ich in die Kurve.
Ich schließe die Augen, erwarte den Aufprall … Welcher Baumstamm wird es sein, der mich entmannt?
Eine Kolumne über meine Langlaufpremiere werde ich schreiben, wenn ich unbeschadet überlebe, gelobe ich. Das mindert die aufschäumende Angst und macht das Überleben sinnvoll.
Noch stehe ich auf steifen Beinen und versuche sogar, in die Hocke zu gehen, wie es die Kommandantin verlangt. Welche Gnade, dass es im Erzgebirge einsam ist, und ich nur von den Tieren des Waldes ausgelacht werden kann.
Da schnauft mir aus der Tiefe eine Rotte wilder Schweine entgegen: Spaziergänger! Ein wanderndes Kaffeekränzchen stapft in Dreierreihe die Loipe bergauf. »He, Fußgänger sind hier verboten, könnt Ihr denn keine Schilder lesen, Mädels?«
Ich erkenne ihre Gesichter und beschließe, auf die beiden jüngeren zu prallen, die exakt auf meiner Spur bergauf trampeln. Angenehmer als eine Oma zu rammen, ist es auf jeden Fall, außerdem heilen junge Knochen schneller. Erst werde ich die mit den schwarzen Haaren umreißen, dann geht die hinter ihr spazierende Blondine zu Boden. »Bahn frei. Hier komme ich!« Schon sehe ich mich auf ihnen strampeln, ein kreischendes Knäuel von liebenden Leibern, sperrigen Skiern und spitzen Stöcken.
Im allerletzten Augenblick springen sie zur Seite. Wer von uns hat nun mehr Glück gehabt?
Vier Stunden und etliche Kilometer später bade ich in Schweiß und habe ein Paket Taschentücher voll geschnupft. Mehrmals bin ich zu Boden gegangen und auf meinen vier Buchstaben gelandet. Mühsam musste ich mich von den sperrigen Brettern befreien, um ächzend wieder auf die Beine zu kommen. Manch freundlicher Handschuh streckte sich mir dabei entgegen, um mich wieder aufzurichten. Doch was sind kleine Ausrutscher gegen den verdienten Erfolg.
Ich fühle mich wie ein Aufziehmännchen und würde im Überschwang der Gefühle sogar noch weiter laufen. Der Triumph, eine neue Sportart kennen gelernt und ohne böse Blessuren überstanden zu haben, erfüllt mein mächtig pumpendes Herz mit Stolz. Ein dickes Lob des Langlauf-Luders leistet einen weiteren Beitrag zum kompletten Wohlgefühl.
Fast fühle ich mich reif für die Langlaufolympiade!
Am Abend spricht jeder einzelne Knochen zu mir. Ich wusste gar nicht, dass ich aus derart vielen Einzelteilen bestehe. In der Hotelhöhle dudelt der Fernseher. »Morgen schlägt der sibirische Winter mit voller Härte in Sachsen und Thüringen zu«, quakt ein in der Flimmerkiste gefangener Wetterfrosch. »Temperaturen bis minus 22 Grad werden erwartet, auf den Straßen ist ein Chaos absehbar«.
Erschöpft und abgekämpft sinke ich in süßen Schlummer.
In weißen Träumen gleite ich sanft über die Piste. Hinter mit spurt ein leicht bekleidetes Langlauf-Bunny. Ich blicke mich um, um mich an ihrem Anblick zu erfreuen.
Da verwandelt sich die Traumzauberfee in eine strenge Domina, die eine neunschwänzige Katze schwingt und in ein mächtiges Megaphon brüllt: »In die Knie! – Oberkörper nach vorn! – Hintern raus! – Knie zusammen! – Nach vorne beugen! – Schneepflug, Schneepflug, Schneepflug …!«
Deutschland, du bist und bleibst mein Wintermärchen!
Diese und weitere Geschichten finden Sie in meinem Buch »Angriff der Killerkekse«
Das ist so herrlich amüsant! Dennoch siegt über mein Herz der Verstand und ich lasse mich nicht verführen, die gefährlichen Bretter auch nur anzurühren. Eine Frage aber hab ich noch: Bei so viel Arbeit – braucht es die warme Unterwäsche wirklich noch?
Irgendwo muss der Angstschweiß doch bleiben … 😉
Amüsanter Selbstversuch. Ich kann mir mein Dauergrinsen über diese gelungene Schilderung ganz und gar nicht verkneifen. Andererseits, seien wir mal ernst und eingedenk, dass Sport Mord sei, seien wir glückselig und froh, dass du von der Teufels Schubkarre heile runtergekommen bist. Und morgen dann gleich auf zwei Kufen zum Training aufs Eis: Olympia ruft! Los! Machet!
Gestehe, Franz: Als Münchener stehst du trotz deiner westfälischen Wurzeln jedes Winterwochenende auf den Brettern! ⛷
Hach, wie gern habe ich das gelesen und mich prächtig amüsiert. Ich selbst muss nun gar nicht mehr auf die Bretter, ich lese einfach dein Erlebnis nochmal nach und freue mich, dass meine Knochen nicht einzeln mit mir sprechen. Es reicht schon, dass der ein- oder andere von ihnen mal aufheult, ganz ohne sportliche Betätigung!
Liebe Grüße
Regina
Ich mache das nur aus Liebe zu meinem Pistenluder, liebe Regina. Was denkst du, wie gern ich stattdessen auf dem Diwan liegen und lesen würde
So gut beobachtet und kommentiert. Danke für dieses Lesevergnügen, lieber Rupi. Ich werde es heute Abend meinem Liebsten vorlesen = doppeltes Vergnügen. Wie angenehm, dabei auf dem Sofa zu sitzen, anstatt durch die Loipe zu gleiten. Meine diesbezüglichen Erinnerungen sind rund 40 Jahre alt – doch noch immer sitzt mir der Stress in den Gliedern … 😉
Wenn du noch ein paar Zuhörer organisierst, komme ich vorbei und veranschauliche die Geschichte durch ein paar ungeschickte Bewegungen, liebe Sigrid
Du hast im Wintermärchen alle Gefahren des Ski- Langlaufs überstanden und gehst als Held aus der Geschichte hervor. Sehr humorvoll beschreibst du dein erstes Langlauf Erlebnis im Erzgebirge. Ich konnte mir lebhaft vorstellen wie du auf den Skiern dahin gleitest und musste schmunzeln.
Am Ende des Tages habe ich mich allerdings weniger als Held gefühlt, sondern mehr darüber philosophiert, wie viele brechbare Knochen der menschliche Körper hat, wenn ich ehrlich sein darf, liebe Ingrid
Herrlich und wunderbar erzählt!!! Jetzt weiß ich warum ich es erst gar nicht mehr wage, denn meine Knochen würden es, nach zu vielen Sportunfällen, nicht mehr ertragen. Doch lasse ich mir nicht das Schneevergnügen mit der verzuckerten Landschaft keineswegs ganz entgehen: Einen kurzen Spaziergang stapfend, durch den noch unberührten, hohen Schneefall, schaffe und wage ich ca. 1 km und genieße die Stille. Höre abgebrochene Zweige, die die Schneelast nicht mehr tragen konnten und kehre dann doch zurück zu einer lärmenden, fröhlichen Schneeballschlacht vor der Waldkneipe (auch Hütte genannt).
Vielen Dank, Elke! ❤️