Der Karajan vom Schillerplatz
30 Jahre nach der Wende ist Verkehrspolizist Günther Jacob immer noch eine Berühmtheit in Dresden. Alteingesessene erinnern sich gern an den »Karajan vom Schillerplatz«, der jahrzehntelang an der berühmten Elbbrücke »Blaues Wunder« seinen Dienst als Verkehrslenker leistete. Ruprecht Frieling traf und interviewte die lokale Kultfigur. Er porträtiert ihn als Paradebeispiel für die These, dass die Möglichkeit gelebter Individualität sogar in Zeiten krasser Uniformität besteht.
1.
Dresden. Deutsche Demokratische Republik. Es ist ein strahlender Montag, die Maisonne tut so, als sei schon Sommer, am liebsten würde man gerne mal alle Fünfe gerade sein lassen … was etwas schwierig werden könnte, denn der Staat pocht auf Planerfüllung. Ohne wenn und aber, streng nach Reglement, ohne Platz für Individualität.
Noch weiß sie es nicht, die DDR, aber in wenigen Jahren wird sie, wird der »Arbeiter- und Bauernstaat« verschwunden sein. Heute jedoch, zu Wochenbeginn, der Kater des Wochenendes miaut noch in den Köpfen und Gliedern der Werktätigen, heute also stemmen sich ihre Arbeiter und Bauern wie gewohnt gegen den Untergang im Kampf mit dem Klassenfeind … ach, lassen wir für den Moment einfach mal all die kämpferischen Worte und schauen wir zu, wie er aussieht, der Kampf gegen den Zusammenbruch.
Zusammenbruch – ein schönes Stichwort. Kollaps. Verkehrskollaps. Drei Straßen treffen am Dresdner Schillerplatz, dem »Schilli«, zusammen. Und noch eine Tram, eine Straßenbahn! Schillerplatz, Flaschenhals, furchtbarer Knotenpunkt, neuralgische Stelle. Geeignet, jeden Autofahrerpuls hochzutreiben, weil’s manchmal nur mühsam weitergeht.
Rund um das »Blaue Wunder«, der weltberühmten Brücke über die Elbe, staut sich der Verkehr, herrscht hektische Betriebsamkeit. Aus allen Himmelsrichtungen kreuzen Fahrzeuge den Schillerplatz. Wartburg, Trabant, Lada, Barkas, MZ und Simson knattern wie an jedem Morgen um die Wette. Wer sich durch dieses Nadelöhr zwischen Loschwitz und Blasewitz pressen muss, der benötigt ebenso viel Geduld wie Nervenstärke.
Ein Moskwitsch stößt über die Elbbrücke Richtung »Schilli«. Die Fahrerin des schnittigen Viertürers mit den angedeuteten Heckflossen wirkt nervös. Von links und rechts drängen fahrbare Untersätze auf die Gabelung. Außerdem überqueren Fußgänger die Straßen. Sie schluckt. Die Verkehrslage sieht unübersichtlich aus. Wer hat hier eigentlich Vorfahrt? Zu allem Übel rollt auch noch eine Straßenbahn ins Bild.
Ihre roten Fingernägel malträtieren das Lenkrad. Schweißperlen rinnen auf ihre Stirn. Nur nicht die Nerven verlieren! Doch wozu besitzt ihr »Rostquietsch« eigentlich 75 Pferdestärken? Sie könnte locker vor der Elektrischen über die Kreuzung zischen. Also Augen zu und durch! Die Automobilistin schließt die Pupillen, tritt mutig aufs Gaspedal. Der Viertakter aus dem Moskauer Automobilwerk KIM schießt nach vorn. Bahn frei! Der Platz gehört ihr …
Es kracht, es klirrt! – Sie kreischt.
Was ist passiert?
Als sie die Augen wieder öffnet, blickt sie in ein Gesicht, das auf ihrer Windschutzscheibe klebt und sie fassungslos anstarrt. Sie beißt sich auf die Lippen. Was ist denn das? – Ein Rieseninsekt im weißen Mantel klammert sich mit beiden Armen an ihre Motorhaube. Das »Insekt«, ein aufgeregter Typ, brüllt, das Autoradio dudelt. Sie versteht kein Wort. »Manchmal ist mir kalt und manchmal heiß, manchmal weiß ich nicht mehr, was ich weiß« scheppert es aus dem Radio des Moskwitsch. Die Gruppe »Karat« singt ihren Hit von den sieben Brücken. Und noch immer rollt ihr Fahrzeug über die Kreuzung Richtung Hauswand.
Panisch betätigt die Frau den Scheibenwischer. Der schrappt sinnlos hin und her. Die Gestalt lässt sich damit leider nicht wegwischen. Endlich entdeckt sie das Bremspedal, vollzieht eine Vollbremsung. Quiiiiiiiietsch. Stöhnend bricht der Verkehr um sie herum zusammen. Auf dem Kühler ihrer Soljankaschüssel ächzt noch immer dieser Mann. – Himmel! Sie hat einen Menschen überfahren!
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Den Kopf der Person, die sie erwischt hat, ziert eine weiße Mütze mit grünem Schirm. Über grauen Biesen blitzt ein silbernes Eichengespinst um eine Hammer- und Zirkel-Kokarde im Ährenkranz. Heiß und kalt jagt es ihr den Rücken hinunter. Es ist ein Volkspolizist. Sie hat einen Vopo angefahren! Alles, alles, doch nur das nicht.
Als der Wagen endlich steht, schießen ihr dicke Tränen in die Augen. Sie ist wie gelähmt. Derweil rutscht der Uniformierte von der Motorhaube. Er rückt Mantel, Mütze und Krawatte zurecht und baut sich vor ihr auf. Die Staatsgewalt schaut zum Fenster hinein. Hektisch kurbelt sie die Scheibe runter. Der Polizist betrachtet das Häufchen Elend am Lenkrad.
»Es ist nett von Ihnen, dass Sie mich ein Stück mitnehmen wollen, Bürgerin«, sagt der Verkehrspolizist. »Aber ich muss hier noch ein paar Stunden Dienst tun.« Er deutet mit seinem Signalstab auf das Verkehrschaos um sie herum. Entnervte Autofahrer untermalen das Durcheinander mit einem vielstimmigen Hupkonzert.
Die Fahrzeugführerin schwimmt in Tränen.
»Es tut mir leid«, stammelt sie, außerstande, die Situation zu erfassen. »Sind Sie verletzt?«, fragt sie den Uniformierten. Der schüttelt verneinend den Kopf. »Zum Glück ist alles gut gegangen, Bürgerin. Aber sie sollten sich mit den Verkehrsregeln besser vertraut machen.«
»Entschuldigung. Entschuldigung. Tut mir total leid«, stottert die Frau im Moskwitsch. Eingeschüchtert starrt sie auf die Staatsgewalt im weißen Plastemantel, die über ihrem Schicksal schwebt. »Ich habe Sie wirklich nicht gesehen, ich wollte einfach nur die Kreuzung überqueren.«
Der Wachtmeister, ein dunkelhaariger Mann mit Schnauzbart Mitte dreißig, bleibt betont höflich. »Exakt aus diesem Grunde stehe ich täglich hier. Ohne Verkehrsregelung stehen am Schillerplatz alle Räder still.«
Die Unglücksfahrerin erwacht aus ihrer Starre, tupft ihre Augen. In ihrer Handtasche kramt sie nach Personalpapieren. Stempelt der Ordnungshüter ihren Führerschein oder macht er sie gleich zur Fußgängerin? Der volkseigene Bußgeldkatalog hält harte Strafen in petto. »Orientierungswerte für einzuleitende Maßnahmen bei Verkehrsdelikten« heißt die geheimnisumwitterte Liste, die jedem Vopo das staatliche Maß von Sanktionen an die Hand gibt. Verkehrsteilnehmer fürchten sie wie der Teufel das Weihwasser. Doch die Frau in dem russischen Viertakter hat heute mehr Glück, als es in der DDR bei Delikten gegen die Vorschriften an der Tagesordnung ist.
»Sind Sie mit zehn Mark Ordnungsgeld einverstanden?«, fragt der Mann, der eben noch ihren Kühler zierte.
Zehn Mark? Nur zehn Mark? Kommt sie wirklich derart preiswert davon? Sie wühlt in ihrer Tasche, findet die Geldbörse. In Windeseile zieht sie eine zerknautschte Note mit dem Bildnis von Clara Zetkin hervor.
»Bitteschön, Herr Verkehrspolizist«, stammelt sie und überreicht ihm die Banknote. »Und danke für Ihre Nachsicht. Vielen, vielen Dank!«
Der Ordnungshüter in Weiß händigt ihr eine Quittung aus. Ohne Belehrung will er sie jedoch nicht weiterfahren lassen.
»Siehst du Bauch und Rücken, musst du auf die Bremse drücken. Siehst du sein Profil, gib Gas – aber nicht zu viel«, zitiert er. »Merken Sie sich das!«
Wie im Reflex antwortet die Unfallfahrerin mit dem jedem DDR-Kind bekannten Schlusssatz aus der TV-Serie »Verkehrskompass«: »Das will ich nun auch ganz gewiss nicht wieder tun!« Und Abfahrt des Moskwitsch samt einer erleichterten Fahrerin …
Der Volkspolizist legt grüßend die rechte Hand an die Schirmmütze. Er geht zurück zu seinem Platz auf der Mitte der Kreuzung. Weithin sichtbar steht er in seinem in der Sonne strahlenden Wettermantel inmitten des Getümmels. Er hebt den Signalstab. Mit gezielten Zeichen und Gesten entwirrt er das Blechknäuel auf dem Platz. Souverän ordnet und dirigiert er die Fahrzeuge. Er wirbelt den zebrafarbenen Stab, er zeigt, winkt und tänzelt dabei geschickt zwischen den Autos umher. Der Mann versieht seinen Dienst mit unübersehbarer Hingabe und erstaunlicher Eleganz.
Bald fließt der Fahrzeugstrom wieder in geordneten Bahnen. Anerkennend winken Autofahrer, die das berüchtigte Nadelöhr passieren, dem Verkehrslenker zu. Günther Jacob, der Diensthabende am Schillerplatz, hat die Situation voll im Griff.
2.
Im sozialistischen Deutschland wird der 1. Juli traditionell als Kindertag, seit Anfang der 1960-er Jahre auch als »Tag der Volkspolizei« gefeiert. Kinder beschenken zu diesem Anlass Polizisten ihres Wohngebietes mit Blumen und singen fröhliche Lieder wie »Schi – Scha – Schutzpolizei«.
Auch am Dresdner Schillerplatz wird dieses Ritual vollzogen. Jungpioniere mit blauem Halstuch besuchen den Volkspolizisten, der hier täglich von früh bis spät den Verkehr regelt. Er sorgt dafür, dass sie auf dem Weg zur Schule sicher die Straße überqueren können. Hauptwachtmeister Günther Jacob ist zum festen Bestandteil des Straßenbildes geworden. Ihm gilt der Gruß der Erstklässler. Sie überreichen ihm rote Nelken, danken ihm damit für seinen unermüdlichen Einsatz. Dazu rezitieren sie Verse, die sie im Rahmen der Verkehrserziehung gelernt haben.
Beeindruckt schauen sie zu, wie der Uniformierte scheinbar mühelos das um ihn herum brodelnde Verkehrschaos bändigt. Mit seinem Reglerstab lotst er Autos, Busse, Motorräder, Radfahrer, Straßenbahn, Fußgänger über die unübersichtliche Kreuzung. Jedem Verkehrsteilnehmer gibt er individuelle Zeichen, winkt, stoppt, ordnet, lenkt. Den Passanten ist der Mann bekannt, sie respektieren, sie mögen ihn. Manche sehen in ihm mehr als einen Verkehrspolizisten: Der Mann besitzt die Qualität eines Entertainers, er verfügt über die Fähigkeiten eines Showmasters.
Ohne den Regler vom Dienst stünden auf dem »Schilli« alle Räder still. Doch das Besondere, das Unvergleichliche an Volkspolizist Günther Jacob ist sein persönlicher Stil. Wie ein Balletttänzer bewegt er sich im Gebrodel. Mit seinem Stab hantiert er elegant, als dirigiere er die Staatskapelle der Dresdner Semperoper. Mit unnachahmlicher Eleganz arrangiert er das Gewirr. Jedermann tritt er zuvorkommend gegenüber. Seine unpreußische Verhaltensweise verleiht dem Ordnungshüter Anerkennung. Jacob ist alles andere als der Typ des volksfernen Hardliners, den viele seiner Kollegen bevorzugt spielen.
Der Dresdner Schillerplatz gilt als Verkehrsknotenpunkt. Hier treffen die Verbindungsstraßen nach Osten, Westen und Süden zusammen, außerdem die zum Elbufer führende Naumannstraße. Wer an diesem Ort den Verkehr regelt, muss sämtliche sieben Sinne nutzen, um alles überblicken und in Fluss halten zu können.
Fußgänger bleiben stehen, um den virtuosen Taktstockschwinger bei seiner Arbeit zu beobachten. Jacobs Ruf hat sich inzwischen derart verbreitet, dass er als heimliche Touristenattraktion gilt. Seine Auftritte ziehen Zuschauer aus der Umgebung an. So kommen an diesem »Tag der Volkspolizei« nicht nur Kinder, um ihn zu beglückwünschen. Erwachsene bedanken sich bei dem Regler und klopfen ihm anerkennend auf die Schulter. Ein Arzt aus der Nachbarschaft begrüßt ihn schmunzelnd als »unser Karajan vom Schillerplatz«.
»Karajan vom Schillerplatz?«
Der Regler freut sich über den Zuspruch, den er aus der Bevölkerung erhält. Er macht seinen Beruf mit Lust und Liebe, freundliche Worte wärmen sein Herz. Doch als er an diesem Abend heimkommt, erinnert er sich an die Formulierung des Mediziners. – Karajan? – Den Namen hat Jacob nie gehört. Was soll das bedeuten? Als er am Tag darauf im Dienstgebäude Blasewitz Kollegen fragt, können die mit der Bezeichnung ebenfalls wenig anfangen. »Karajan?« – »Nie gehört.« – Ein Schimpfwort wie »Bulle« ist es jedenfalls nicht!
Es dauert eine Weile, bis Günther Jacob erstmals von dem österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan erfährt. Die klassische Musik ist nicht sein Ding, er bevorzugt die leichten Weisen der Volksmusik. Opernhaus wie Konzertsaal kennt er nur von außen. Eines schönen Tages erfährt er, dass er mit einem der bekanntesten und bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts verglichen wird. Das schmeichelt ihm durchaus. Denn schließlich fühlt er sich tatsächlich als eine Art Kapellmeister, der nach vorgegebener Partitur individuelle Instrumentalisten zu einem großen Ganzen ordnet und in Bewegung setzt.
Der Ehrentitel »Karajan vom Schillerplatz« wird bald zum feststehenden Begriff bei den Dresdnern und bei vielen Verkehrsteilnehmern aus der Umgebung. Günther Jacob verkörpert eine Institution. Der Wachtmeister der Verkehrsbereitschaft dirigiert von 1979 bis 1994 täglich von morgens sieben bis um siebzehn Uhr seine »Symphonie für Barkas, Wartburg, Trabbi und Lada«. Fünfzehn lange Jahre leistet er bei Wind und Wetter seine Pflicht und schenkt dabei jedem ein herzliches Wort. Kein Regler der DDR verrichtet über einen derart langen Zeitraum an einem Ort Dienst.
Anno 1994 übergibt Günther Jacob als letzter Dresdner Regler die Kreuzung an Oberbürgermeister Herbert Wagner – der Schillerplatz wird künftig durch eine Ampelanlage geregelt, der stadtbekannte Polizist von seinem geliebten Wirkungsfeld abgezogen. Er widmet sich anderen Aufgaben der Verkehrsüberwachung.
3.
Günther Jacob wird im März 1951 als Zweites von sechs Geschwistern in Dresden-Dobritz geboren. Die dreißig Jahre zuvor eingemeindete Ortschaft gilt als ein typischer Arbeiterbezirk. Die meisten Bewohner finden ihre Beschäftigung in der örtlichen Gardinenfabrik oder im »Schokopack«. So nennt der Volksmund den »VEB Schokoladen- und Verpackungsmaschinen« an der Breitscheidstraße.
Vater Jacob ist Mitglied der Kasernierten Volkspolizei. Das um sich selbst kreisende Familienoberhaupt ist ein harter Hund, der seinen Kindern wenig emotionale Zuwendung gibt. Früh versucht er, Sohn Günther für den Polizeidienst zu werben. Der absolviert nach Abschluss der zehnten Klasse jedoch zunächst eine Lehre als Schlosser bei der Reichsbahn. Danach bleibt er vorerst im Bahnbetrieb tätig.
Der junge Mann verfolgt indes ein Hobby, das ihn für das Werben seines Erzeugers empfänglich macht. Er steht auf Zweiräder! Bereits mit 16 fährt er eine Kreidler. Später saust er auf einer Trophy MZ 150 durch die Gegend. Dieser heiße Stuhl gilt in der DDR als Highlight.
MZ ist zu jener Zeit unangefochten der größte Motorradhersteller der Welt. Anfang der sechziger Jahre können die Feuerstühle aus Thüringen noch in vielen Disziplinen am internationalen Markt mithalten. Sie sind besser als die japanischen Reisschüsseln aus dem goldenen Westen. MZ fertigt die ersten elastisch aufgehängten Motoren, produziert das erste asymmetrische Abblendlicht am Motorrad und entwirft die komfortabelsten Serienfahrwerke. Mit MZ-Motorrädern gewinnt das Enduroteam der DDR sechs Mal hintereinander die legendäre Trophy (die heutigen Sixdays). Diese Rennerfolge sind in aller Munde. Außerdem braucht die DDR Devisen und erhält diese dank des Maschinen-Exports ins westliche Ausland.
Günther ist Fan schneller Kräder. Aber kann man diese Leidenschaft zum Beruf machen? Bestärkt vom Vater, reift sein Wunsch, eine »weiße Maus« zu werden. Er unterschreibt einen Vertrag bei der Volkspolizei, der ihm einen späteren Einsatz mit Motorrad garantiert. 1971 besucht er die nach Hans Beimler, einem KPD-Reichstagsabgeordneten und politischen Kommissar der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, benannte Verkehrspolizeischule Magdeburg. Dort genießt er eine Ausbildung im fachlichen als auch im fahrzeugtechnischen Umfang.
Verkehrspolizisten werden dringend benötigt. 3,6 Millionen Personenkraftwagen rollen in der DDR – jährlich kommen 130.000 Neuwagen dazu. Junge Leute, die diesen Berufsweg einschlagen wollen, sind herzlich willkommen.
Im Anschluss an den schulischen Bildungsgang absolviert der inzwischen Zwanzigjährige ein Praktikum. Er lernt Druckschlauchmessgeräte zur Geschwindigkeitskontrolle kennen. Bei Verkehrskontrollen reicht er Autofahrern eine der berüchtigten »Tüten« zum Pusten, um einen eventuellen Alkoholgenuss nachzuweisen. Färbt sich der Inhalt grün, hat der Verkehrsteilnehmer deutlich sichtbar gegen die in der DDR bestehende Null-Promille-Grenze verstoßen.
Alkohol am Steuer spielt in der DDR trotz des rigorosen Verbotes eine erhebliche Rolle. Mehr als 4.000 Unfälle gehen beispielsweise 1987 auf das Konto von angetrunkenen Fahrern. 22.300 DDR-Bürger müssen in dem Jahr nach einer Blutprobe ihren Führerschein abgeben. Wer mit 0,5 Promille am Steuer erwischt wird, verliert für drei Monate den Führerschein und zahlt mindestens 100 DDR-Mark. Bei 2,0 Promille fällt die Strafe schon wesentlich härter aus. Im Wiederholungsfall werden bis zu 1.000 Ost-Mark fällig, der Fahrzeugführer wird für drei lange Jahre zum Fußgänger degradiert.
Es gibt also reichlich Arbeit für die Volkspolizisten der Verkehrsbereitschaft. 1973 beginnt Jacob seinen Dienst in seiner Heimatstadt Dresden. Anfangs fährt er Streife auf einem Zweisitzer ohne Funk. Diensttelefone, die polizeiinterne Kommunikation ermöglichen, stehen an jeder Straßenecke. Wenig später erhält er ein Funkmotorrad Typ MZ 250. Er liebt die Maschine.
1979 wird der inzwischen zum Oberwachtmeister Beförderte einem Reglerzug im Bereich West zugeteilt. Sein künftiger Einsatzbereich ist der Schillerplatz nahe der berühmten Elbbrücke »Blaues Wunder«. Hier findet er seine Bestimmung.
Am »Schilli« wird er fünfzehn Jahre Dienst tun. Täglich wacht er zehn Stunden über den Platz. Als alleinerziehender Vater leistet er in der ersten Zeit einen »Muttidienst« zwischen sieben und siebzehn Uhr. Als er den Nachwuchs nicht mehr jeden Abend von der Krippe abholen muss, wird er zum Schichtdienst eingeteilt. Künftig regelt er auch in den Abendstunden den an diesem neuralgischen Punkt besonders intensiv brausenden Verkehr.
In grüner Uniform, mit Schlips und Schirmmütze verrichtet der »Karajan vom Schillerplatz« seine Pflicht in praller Sonne ebenso zuverlässig wie bei Eis und Schnee. Im Sommer zieren leuchtend weiße Stulpen seine Uniformjacke, damit er weithin sichtbar ist und nicht über den Haufen gefahren wird. Ein derartiges Missgeschick passiert ihm, wie er sich mit Schmunzeln erinnert, lediglich ein einziges Mal, als ihn eine junge Frau im Moskwitsch auf die Haube nimmt …
Bei widrigem Wetter und in der kalten Jahreszeit kleidet sich der Regler in einen langen Regenmantel aus Plastik. Dieses unbequeme Kleidungsstück wird von den Volkspolizisten gehasst. Das aufgeschwemmte Kunstleder saugt sich gern voll Wasser und wiegt entsprechend schwer. »Dickels letzte Rache« wird die Umhüllung in Erinnerung an den letzten DDR-Innenminister Friedrich Dickel intern genannt.
Das Gehalt eines Verkehrspolizisten jener Tage ist mehr als bescheiden. Mit 415 DDR-Mark monatlich geht er mit weitaus geringerem Lohn nach Hause als ein Industriearbeiter. Doch Günther Jacob murrt nicht. Er liebt seine Arbeit und trägt dabei so viel Sonne im Herzen, dass diese deutlich auf seine Umwelt abfärbt.
4.
Am 30. März 2011 tritt Günther Jacob nach vierzig Dienstjahren den wohlverdienten Ruhestand an. Zur Verabschiedung wird er zum Polizeichef geladen. Kollegen fangen ihn in der Kleiderkammer ab, als er seine Uniform zurückgeben will. Sie überreden ihn, ein letztes Mal die Dienstkleidung anzulegen. Jacob wundert sich, denn eigentlich beginnt ab sofort seine Zeit als Zivilist. Als er schließlich in grüner Uniform und in weißem Regenmantel vor die Tür des Dienstgebäudes tritt, ahnt er, dass die Kollegen eine Überraschung vorbereitet haben.
Rechtsanwalt Stefan Kreuzer, der seine Kanzlei in der Hüblerstraße mit Blick auf den Schillerplatz betreibt, hat Polizeipräsidenten Dieter Hanitsch einen Vorschlag gemacht. Der langjährige Vorsitzende des Gewerbevereins »Brückenschlag Blaues Wunder« setzt sich dafür ein, die Anziehungskraft des Quartiers zu verstärken. Er kennt die enorme Beliebtheit Günther Jacobs im Kiez und regt an, ihn dort noch einmal auftreten zu lassen. Hanitsch lässt sich nicht lange bitten; er unterstützt den Plan.
Zur Verabschiedung des kurz vor der »Wende« noch zum Polizeimeister beförderten Jacob erscheinen an diesem Mittwochmorgen zahlreiche Polizeikollegen. Der künftige Ruheständler wird in einen grünweißen Moskwitsch 408 (Baujahr 1967) gesetzt, eine Motorradstaffel eskortiert ihn zum Schillerplatz. Dem Konvoi folgen ein historischer Polizeibus Marke Barkas sowie eine Reihe hochmoderner Polizeifahrzeuge. An dem Platz, der seit Jahrzehnten eng mit seinem Namen verwoben ist, sind die Ampeln an diesem Tag abgeschaltet.
Journalisten und Kameraleute erwarten ihn vor Ort, der Auftritt des Kapellmeisters vom »Schilli« wird im Fernsehen gezeigt. Anwohner begrüßen ihn mit Blumensträußen. Fenster der anliegenden Häuser sind sperrangelweit geöffnet, Zuschauer filmen das Spektakel. – Der »Karajan vom Schillerplatz« darf ein letztes Mal zeigen, wie virtuos er den Verkehr regeln kann.
Günther Jacob gibt alles. Wie zu seinen besten Zeiten hebt der inzwischen Sechzigjährige seinen Signalstab. Er dirigiert das Geschehen, als habe er keinen Tag pausiert. Virtuos und elegant schwebt der Polizist wie eine Feder im brodelnden Verkehr. Er winkt, zeigt, lässt den Stab wirbeln und strahlt über beide Backen, wenn ihn Autofahrer erkennen und grüßen. Der »Karajan vom Schillerplatz« ist längst fester Bestandteil der Dresdener Stadtgeschichte.
5.
Im Brauhaus am Waldschlösschen genießt Günther Jacob ein Bier. Überpünktlich ist der »Karajan vom Schillerplatz« zum Interview erschienen. Der Ruheständler strahlt eine sympathisch-freundliche Art aus, die gefangen nimmt. Mit einem leichten Einschlag ins breite Dresdner Sächsisch verrät er sein Geheimrezept.
»Bürgernähe« heißt das Zauberwort, mit dem er die Herzen der Menschen am »Schilli« eroberte. Ein gutes Verhältnis zu Straßenbahn- und Busfahrern, zu ortsansässigen Geschäftsleuten sowie zu den Bürgern, die täglich die Stätte überqueren, bildet seine Rezeptur.
Sind alle Dresdner Polizisten derart sonnig gestimmt? Als Berliner mag es der Gesprächspartner von Jacob kaum glauben. Polizisten zählen im Verständnis der Hauptstädter eher zu den Spaßbremsen. Der Polizeimeister schmunzelt. In seiner Einheit teilten die meisten Kollegen seine Einstellung, meint Jacob. Natürlich gab es auch Stiesel und sture Typen. Doch die setzten sich bereits in der Kantine an einen anderen Tisch.
»Karajan« fühlte sich in den fünfzehn Jahren seines Dirigates stets als integraler Bestandteil des »Schilli«. Er empfand es als Super-Überraschung, zum Ausklang seiner Berufstätigkeit den geliebten Platz noch einmal regeln zu dürfen. Jeder Presserummel um seine Person ist ihm dabei unangenehm. Seine Pflicht, sagt Jacob, habe er nach bestem Wissen und Gewissen erledigt, auffallen oder etwa berühmt werden wollte er nie.
Seine Herzenssache war, den täglichen Job mit Freude zu verrichten. Als Regler gab er Zeichen, die allgemein verständlich wirken. Schon in der Ausbildung lehnt er das dort vermittelte Regelschema ab. »So was Doofes« will er auf keinen Fall machen. Er entwickelt seine eigene Zeichensprache, deren Eleganz ihn schließlich zu einer Art Ikone macht. Vorgesetzte akzeptierten seinen individuellen Stil. Zurechtweisungen, Rüffel oder abweichende Dienstanweisungen blieben ihm erspart.
Seine ehemaligen Kollegen mögen das unveränderte Interesse am »Karajan vom Schillerplatz«. Polizeirat Peer Barthel begrüßt das Thema, da über Polizisten selten positiv berichtet wird. Der Leiter der Verkehrspolizeiinspektion Dresden hofft, durch Veröffentlichungen vielleicht sogar die traditionellen weißen Mützen zurückzubekommen. Diese verschwanden bei der Umstellung auf Blau in der Versenkung. Dann leisteten wieder echte »weiße Mäuse« auf Sachsens Straßen wie zu Günther Jacobs Zeiten ihren Dienst.
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Bei mit frischen Champignons und Käse überbackenem Würzfleisch vom Hähnchen und Brauhausbrot berichtet »Karajan« von seiner Dienstzeit. Spektakuläres gab es kaum. Abgesehen von dem Moskwitsch, der ihn auf die Haube nahm, galoppierte einst ein Pferd von den Elbwiesen auf den Schillerplatz. Es hatte sich losgerissen und schleppte eine Eisenkette, an der ein Teil der Deichsel hing, mit sich. Mit einem kühnen Sprung setzte der Vierbeiner über einen Trabi. Im Galopp riss das Tier zwei Frauen vor der Bäckerei Hinkel zu Boden und beschädigte schließlich einen Lada im Gautschweg. Die Hengstparade bildete eine der Abwechslungen im täglichen Einsatz.
Leben und leben lassen, lautet die Devise des Dresdners. Wollte ein übereifriger ABV (Abschnittsbevollmächtigter) seine Mitwirkung, um den Fahrer eines geparkten Westfahrzeuges aufzuspüren, interessierte ihn das herzlich wenig. Innerhalb des Regelwerks der Polizei einen individuellen Weg zu finden, ohne die Pflicht zu verletzen, war sein Ziel. Dabei schützten ihn die Kollegen der Bereitschaft vor unverständigen Vorgesetzten. Versetzungsgefährdet war Jacob jedenfalls trotz oder vielleicht gerade wegen seiner wachsenden Beliebtheit nie …
Bei strahlendem Sonnenschein treten wir auf die Terrasse des Brauhauses und schauen auf das silberne Band der Elbe. Darüber spannt sich die Waldschlösschenbrücke, die vielen Einheimischen ein Dorn im Auge ist. Dresden opferte für die Errichtung den Titel als Weltkulturerbe. Für den Verkehrsfachmann Jacob dient die Brücke hingegen zur Entlastung des Verkehrs, der den Strom kreuzt.
Bekannt wie ein bunter Hund, ist der »Karajan vom Schillerplatz« inzwischen längst zur lokalen Kultfigur geworden. Er ist ein Paradebeispiel für die These, dass die Möglichkeit gelebter Individualität auch in Zeiten krasser Uniformität besteht.
Sein Rang als stadtgeschichtliches Faktotum wird dem beliebten Verkehrspolizisten höchstens von »Gustel von Blasewitz« streitig gemacht. Johanne Justine Renner, Wirtstochter der damaligen »Fleischerschen Schenke«, jetzt »Schillergarten«, lernte Schiller bei seinen Besuchen anno 1785 kennen. In seinem »Wallenstein« verewigte der Dichter sie im fünften Auftritt als Marketenderin mit den Worten »Was? Der Blitz! Das ist ja die Gustel aus Blasewitz«.
Doch das ist eine andere Geschichte um den Platz, der seit 1860 den Namen des Dichterfürsten trägt und über den täglich rund 40.000 Fahrzeuge rollen.
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Weitere ungewöhnliche Porträts von Ruprecht Frieling lesen?
Ein Meister seines Fachs hat wie immer spitzenklassemäßig geschrieben.
Musste schmunzeln, mir war, als sei ich die ganze Zeit am Ort des Geschehens dabei gewesen.
Leser erfahren nicht nur politische und kulturelle Geschichte, sondern sie bekommen tiefe Einblicke in das menschliche Miteinander, das Arbeitsklima, die Errungenschaften der Arbeit und noch viel mehr.
DANKE.
Viele Dank, Christine!
Vielleicht gab es in Leipzig auch ein Unikum, über das sich zu schreiben lohnt?
Wunderbare, anschauliche, gut recherchierte Geschichte vom „Schilli“ in Dresden: sagt ein gebürtiger Dresdner, der nur dort geboren wurde, aber zeitlebens von der Sprache seines Berliner Vaters in Jugendjahren im Erzgebirge der DDR, im Badischen, während seiner Reisen und Aufenthalte in England, Palästina, Prag, Rumänien und sonst wo begleitet wurde.
Aber den Dresdner in mir fesselte die Geschichte vom „Karajan“ ungemein! Denn meine Dresdner Verwandtschaft, der Vater eines Verwandten wieder, erzählte ähnlich – ich hörte als Schulkind in Annaberg/Erzgebirge begeistert von solch einer großstädtischen Geschichte – von solch einem ehrenamtlichen „Regler“ bei der Dresdner Straßenbahn. Schmunzelnd, dann lachend, wurde über Großvater Pröhl in Dresden erzählt, der als „Bahner“, das vielleicht in den 40er, 50er Jahren direkt an der Elbe erlebt hat – berichtete uns Gerhard, der Schauspieler und Regisseur, aus seiner eigenen Jugend. …..
Es gäbe noch viel den heute von DDR-Straßen, Daten und Fakten erzählenden, ja auch reportierenden Ruprecht zu loben. Ich sage nur: „Alles stimmt! Von MZ, über Simson, bis Semper-Oper, an der übrigens ein Verwandter von mir sein ganzes Berufsleben lang als Bratschist gefiedelt hat. Ach,
wer mehr wissen will: erfahre dies über meine Homepage http://www.gpmerk.de, oder maile mich an über: mail@gpmerk.de.
Alles Gute, liebe/r Leser/in – vielleicht bis später?
Gert-Peter
Lieber Gert-Peter, vielen herzlichen Dank für dein tolles Feedback als Zeitzeuge. Mir lag bei der kleinen Geschichte am Herzen, die DDR ohne Häme so darzustellen, wie sie wirklich war. Alles in Bausch und Bogen zu verdammen, ist üble Nachrede, und davon gibt es seit Jahrzehnten mehr als genug.