WELTENDE
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut
In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Das Gedicht »Weltende« des genialen Jacob van Hoddis leitete im Januar 1911 die AKTIONSLYRIK ein, die heute als »expressionistische« Lyrik bezeichnet nennt. Ohne van Hoddis wären die meisten »fortschrittlichen« Lyriker unserer Tage undenkbar, meint der Expressionismus-Forscher Paul Raabe, der die wichtigsten Texte des Dichters in einem schmalen Band zusammengestellt hat.
Zwischen 1911 und 1918 wurden die Texte van Hoddis in verschiedenen zeit- und kulturkritischen Zeitschriften wie »Die Aktion«, »Der Sturm«, »Die Fackel«, »Revolution« und »Dada« publiziert.
Dabei erschien das Titelgedicht »Weltende« erstmals am 11. Januar 1911 in der Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur, »Der Demokrat«. Das Gedicht ist in Inhalt und Stil das berühmteste des Dichters geblieben. In seiner ahnungsvollen Schilderung des Untergangs des Welt nimmt es den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorweg und symbolisiert den Aufbruch der expressionistischen Lyrik seit 1910.
Der expressionistische Lyriker und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher schrieb 1957 dazu: »Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wussten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wie sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hin flüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Strasse hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Hunger und Kälte waren nicht mehr.«
Jakob van Hoddis wurde am 16. Mai 1887 als Hans Davidsohn in Berlin geboren. Nach einem abgebrochenen Architekturstudium an der TU Berlin studierte er Klassische Philologie in Jena und Altphilologie in Berlin. 1908 hält er seine erste öffentliche Lesung und nimmt dazu sein Pseudonym »Jakob van Hoddis« an.
Aufgrund seines unsteten Gemütszustandes wird er am 31.10.1912 zwangsweise in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, aus der er kurz darauf nach Paris entflieht. Wieder zurück in Deutschland, wo er am 25. April 1914 letztmalig öffentlich liest, wird der Kranke privat gepflegt und wandert durch verschiedene Kliniken und Heilstätten.
Am 30. April 1942 wird der Dichter von den Nazis deportiert und in einem Massenvernichtungslager in Polen ermordet. Sein genaues Todesdatum ist unbekannt.
WELTENDE: Expressionistische Gedichte
Das Gedicht kenne ich schon lange und schätze es sehr. Dass Becher so begeistert davon war, ist mir neu. Er pflegte ja in seinen eigenen Dichtungen eher die konventionellen Formen und Inhalte.
Becher war in seiner Frühzeit bekennender Expressionist und wurde sogar wegen »literarischen Hochverrats« angezeigt. Später pflegte er den »sozialistischen Realismus«, bis er als Abweichler abgedrängt wurde.
…um noch ein Beispiel zu nennen : “ Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt …“
„Literarischen Hochverrat“ – das hört sich an wie aus einer satirischen Zeitung. Aber in der Zeit des Expr. (Anfang des Jahrhunderts, Dt. Kaiserreich) kann man sich das durchaus vorstellen.
No Sir, das war in der Weimarer Republik als Antwort auf Bechers Antikriegsroman. Der Prozess dauerte drei Jahre.
P.S. Ich würde bei Becher sehr behutsam umgehen mit dem Begriff »konventionell«.
Bechers bekanntestes Werk auf die Musik von Hanns Eisler.
Genau. Guter Text und gute Musik. Wird aber nur noch selten gesungen.Ich sing s ab und zu.
Kann der Donaufisch ja als Stadthymne von Ulm vorschlagen, das wäre mal was!
Die Chancen, dass mein Vorschlag Gehör findet, sind gering. Die Alten wittern kommunistische Subversion, den jungen wäre eher ein Text des Berliner „Dichters“ Sido genehmt mit dazu passender Musik.
Schon wieder muss ich eine Bildungslücke gestehen. Aber Becher kenne ich natürlich, ein kleiner Trost…
Quasi ein Trostbecher 🙂
Subversion ist ganz im Sinne der Expressionisten!
Wenn es denn kein Schierlingsbecher ist… 😉
Würde ich Dir nie verabreichen – hier ist schließlich Bildungsfernsehen.
Besser als arte und 3sat…
Dachte, vielleicht freut es Dich, Rupi, das Sonett eines anderen Berliner Expressionisten zu lesen. Wahrscheinlich kennst Du es. Auch Heym verwendet wie Hoddis ganz typisch expressionistische Bilder umwerfende Bilder und das in einer Gedichtform, die im 17. Jahrhundert (Andreas Gryphius) sehr beliebt war.
BERLIN 3
Schornsteine stehn in großem Zwischenraum
Im Wintertag, und tragen seine Last,
Des schwarzen Himmels dunkelnden Palast.
Wie goldne Stufe brennt sein niedrer Saum.
Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,
Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,
Und auf vereisten Schienen mühsam schleppt
Ein langer Güterzug sich schwer hianus.
Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein,
Die Toten schaun den roten Untergang
Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein.
Sie sitzen strickend an der Wand entlang,
Mützen aus Ruß dem nackten Schläfenbein,
Zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang.
(Georg Heym)
Tolles Gedicht. Danke.
Georg Heym zählt zu den expressionistischen Lyrikern. Gemeinsam mit van Hoddis gründete er den »Neuen Club«. Die beiden kannten sich danach gut.
Trauriges Leben. Auch in der Schweiz wurden einige Genies in die Nervenheilanstalt gebracht. Einige konnten aber doch weiter arbeiten.
poc
Die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn sind wohl tatsächlich fließend. Hölderlin wurde in den berühmten Turm gesperrt, der erkrankte Nietzsche von seiner raffgierigen Schwester Elisabeth in Weimar vor zahlenden Gästen ausgestellt.
Bin gespannt, wo wir beide enden vielleicht im Blogturm? 😉
Dankeschön für die Erinnerung an Jakob von Hoddis. Mein Lieblingsvers:
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
… denn dieses „entzwei“ ist reichlich surreal, als bestünden die Dachdecker aus einem starren Material, dem von ihnen verwendeten Dachziegel gleich, so dass sie in zwei Stücke zerbrechen, wenn sie am Boden auftreffen.
Über das Visionäre in diesem Gedicht: Es scheint, als hätte er Hoddis den ersten Weltkrieg vorausgeahnt, wie du sagst. Doch das Gedicht passt ja auch in unsere Zeit.
Wundervoll, lieber Rupi, dieses Gedichtes von diesem Dichter zu gedenken und beide via Blog in heutige Öffentlichkeit zu rücken. Mit welcher Aktualität die Verse sprechen, mahnen, schreien. Sind’s etwa dieselben Stürme, die heute toben?
Es passt unbedingt!
Heute wäre van Hoddis zudem mit dem Leben davon gekommen und nicht als »unwert« vernichtet worden
Es freut mich sehr, dass van Hoddis doch noch einigen bekannt ist. Sein »Weltende« klebt seit Jahren an meiner Schreibtischlampe, und ich bin immer wieder beeindruckt von der Kraft dieser acht Zeilen. Bisweilen scheint mir, als habe der Dichter nur für diese acht Zeilen gelebt und sei dadurch unsterblich geworden.
das gedicht ‚das weltende‘ kannte ich schon. mit van hoddis hab ich mich noch nie beschäftigt. ich hab auf deine anregung hin grad ein paar seiner gedichte geschmökert. lesenswert.
van Hoddis hat rund 200 Gedichte und ein wenig Prosa geschrieben und ist auf jeden Fall lesenswert. Da in einigen Blogs derzeit ein wenig über Dada geschrieben wird, habe ich den oben genannten Band noch einmal gelesen und hier vorgestellt. Ich bewundere, dass Du gleich auf die Suche gegangen bist!
Hier noch ein Link zu einigen Gedichten:
http://www.jbeilharz.de/expr/hoddis-gedichte.html
Der Visionarr
Lampe blöck nicht.
Aus der Wand fuhr ein dünner Frauenarm.
Er war bleich und blau geädert.
Die Finger waren mit kostbaren Ringen bepatzt.
Als ich die Hand küßte, erschrak ich:
Sie war lebendig und warm.
Das Gesicht wurde mir zerkratzt.
Ich nahm ein Küchenmesser und zerschnitt ein paar Adern.
Eine große Katze leckte zierlich das Blut vom Boden auf.
Ein Mann indes kroch mit gesträubten Haaren
einen schräg an die Wand gelegten Besenstiel hinauf.
Ich habe zu diesem Gedicht ein Bild im Kopf… mir fällt nur nicht ein wo ich es gesehen habe.
Ich meine an einem Gymnasium in Ba Wü wurde es umgesetzt
im Leistungsfach Deutsch.
Aber ich komm noch drauf…. irgendwann.
Danke.
»Visionarr« wurde erstmals 1914 in »Die Aktion« veröffentlicht und bildet den Übergang von einer expressionistischen zur dadaistischen Lyrik. Die bizarre Begebenheit wird zu einer irrealen Groteske und nimmt so Dada vorweg (sagen die Fachleute).
Das ist die einzige Bildumsetzung von »Der Visionarr«,
die ich gefunden habe:
Eine Umsetzung die mir irgendwie gefällt.
Ich versuche mal, das Bild das mir im Kopf rumgeistertert selber umzusetzen. Es war direkt auf eine Wand gemalt und man hatte dein Eindruck, die Hand zieht einen rein. Dreidimensional. Kann auch im Leistungskurs Kunst erarbeitet worden sein. Ich komm noch drauf.
Spannend, alle Beiträge zu dem einen Gedicht zu lesen…was man so alles nicht weiß…man kann ja nicht alles auf´s Vergessen schieben. Die Nationalhymne der DDR bringe ich aber wenigstens noch komplett zusammen, habe sie gerade allein in meiner Küche geträllert…
Vielleicht mache ich mal was über Johannes R. Becher. Kommt erst einmal auf meinen Stapel ungeschriebener Artikel
so, da hast du also in der lyrikkiste gewühlt. habe vor gar nicht so langer zeit in meinen kleinen beständchen gekramt und folgendes Buch gefunden:
Pinthus: Menschheitsdämmerung
http://www.rowohlt.de/sixcms/detail.php?template=navigation_frame_start&_BuchID=494718&_id00=281&_strip=516&_alphabet=P*
ich denke, der dichter hoddis war mit enthalten.
M.
»Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland.«
Else Lasker-Schüler im Anhang der Anthologie
ich bin in buch geboren
war hier und mal dort
im westen auch
und dann mal fort…
sterben werd ich auf jedenfall
aber das buch ist noch nicht geschrieben
grüße aus meinen unveröffentlichten liedern
m.
Wunderschönes Gedicht, interessanter mir bisher unbekannter Autor. sollte wohl mein Repertoire erweitern. Danke für den Tipp!
»Weltende« hat in unserem Sprachraum Literaturgeschichte geschrieben.
Danke für Deinen Besuch!
Zugegebenermaßen, kann ich bis jetzt weder mit dem „Weltende“ noch mit van Hoddis viel anfangen…:/
Kein Problem. Dafür gibt es bestimmt Texte, die dir gefallen und mit denen ich nicht viel anfangen kann.
Ganz großartig finde ich zum Beispiel die Lyrik dieses Lieds 😉
Das ist fast hundert Jahre jünger und im Selbstversändnis sicher auch gesellschaftskritisch gedacht. Den Anspruch hat van Hoddis nicht.
Habe mich als Komponist mit WELTENDE beschäftigt. Ihr Kommentar dazu würde mich interessieren.
siehe YOUTUBE:
Glotteff meets Jakob van Hoddis – ‚Weltende‘
https://youtu.be/1cwo6Tfsbd8
RJ Gross – GLOTTEFF