Ausgehend von einem berühmten Gruppenbild des Jugendstil-Stars Heinrich Vogeler schildert der Roman »Konzert ohne Dichter« Szenen aus der legendären Künstler-Kolonie Worpswede.
Das Worpswede-Gemälde »Das Konzert«
Der Präraffaelit Vogeler hatte in seinem 310 x 175 cm großen Gemälde »Das Konzert« seine Frau Martha porträtiert, die an einem Sommerabend der Jahrhundertwende auf der Eingangstreppe vor ihrem gemeinsamen Wohnsitz Barkenhoff in Worpswede steht. Zu den Füßen der Frau, die in die Ferne blickt, liegt ein russischer Windhund.
Auf der rechten Seite sitzen drei Musiker, darunter der Maler selbst am Cello, halb verdeckt durch seinen Bruder Franz an der Violine. Sein Schwager spielt Flöte. Zur Linken sind prominente Künstler aus dem Künstlerdorf abgebildet. Die »Malweiber« Paula Modersohn, Agnes Wulff und Clara Rilke-Westhoff sind zu sehen. Im Hintergrund steht der bärtige Otto Modersohn.
Nur ein Mitglied der damaligen Barkenhoff-»Familie« fehlt: Das ist der Dichter Rainer Maria Rilke, dessen Bildnis Vogeler, der fünf Jahre lang an dem Bild arbeitete, wieder löschte.
Zerwürfnis zwischen Vogeler und Rilke
In seinem höchst feinfühligen Künstlerroman schildert Klaus Modick, wie es zu dem Zerwürfnis zwischen dem berühmten Maler und dem nicht minder bekannten Dichter kam. Der Autor beschreibt drei Tage im Leben Heinrich Vogelers und nimmt dies immer wieder zum Anlass, die Gedanken seines Protagonisten in die Vergangenheit wandern zu lassen. Das biographisch angelegte Werk beginnt in Worpswede und klingt am Freitag, den 9. Juni 1905 in Oldenburg aus. An jenem Tag wurde »Das Konzert« auf der Nordwestdeutschen Kunstausstellung gezeigt und Vogeler mit der Goldmedaille für Kunst und Wissenschaft geehrt.
Angeregt durch Tizians Gemälde »Das ländliche Konzert« hatte der Kunstgewerbler, der Möbel, Gebrauchsgegenstände, Kleidung und Schmuck entwarf, ein monumentales Gruppenbild geschaffen, das auf den ersten Blick wie ein Idyll wirkt. Dem Blick des aufmerksamen Betrachters entgeht jedoch nicht die Konstellation, in der die Figuren stehen, und so hatte Vogeler auch allen Grund, seinen »Seelenverwandten« Rilke auszusparen.
Der stets recht blasiert auftretende Dichter hatte trotz geringer körperlichen Größe oder Schönheit einen Schlag bei Frauen, die er mit seinen weltentrückten Versen in Bann schlug. Vogeler rückte ihn in seinem Bild anfangs aufgrund einer Ménage-à-trois, in die sich Rilke verwickelt, mal näher an Paula Modersohn-Becker heran, mal näher an seine spätere Ehefrau Clara Westhoff. Als er erfährt, dass der krankhaft narzisstische Rilke sein eigenes Kind zu Pflegeeltern gibt, um seine Ruhe zu haben, streicht er ihn vollends aus dem Bild.
Heinrich Vogeler will Worpswede entfliehen
Während sein Gemälde in der Öffentlichkeit als Meisterwerk gefeiert wird, will der 33-jährige Vogeler nur noch dem goldenen Käfig Worpswede entfliehen. Sein Bild ist insofern Resultat eines dreifachen Scheiterns: Seine Ehe mit Martha kriselt, sein künstlerisches Selbstverständnis wankt, und die vermeintliche Freundschaft zu Rilke zerbricht.
Tatsächlich bricht Vogeler bald zu neuen Ufern auf. Er reist durch die Welt und erlebt mit eigenen Augen die sozialen Widersprüche. Erfahrungen im Ersten Weltkrieg machen ihn zum radikalen Pazifisten, der sich während der Novemberrevolution 1918/19 auf die Seite der aufständischen Arbeiter und Soldaten schlägt. Nach Reisen in die Sowjetunion wird der Barkenhoff zu einer sozialistischen Künstlerkommune und dann zu einem Kinderheim der »Roten Hilfe« umgestaltet. Die Nazis zerschlagen schließlich den Barkenhoff, Vogeler geht ins sowjetische Exil, wo er am 14. Juni 1942 stirbt.
Leseerlebnis der besonderen Art
Autor Klaus Modick verwebt höchst kunstsinnig historische Fakten mit Rilke-Zitaten, Vogeler-Äußerungen und narrativen Mutmaßungen. Er bedient sich dabei einer blumenreichen, bisweilen kitschig-ornamentalen Sprache, um seinem Gegenstand wie dem Zeitgeist jener Epoche nahe zu kommen. Dies führt zu einem ebenso lyrisch einfühlsamen wie spannenden Gesellschaftsroman, der in seiner Kunstfertigkeit einzigartig ist. Im Ergebnis ist »Konzert ohne Dichter« ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art und eine Anregung, Worpswede mit neuen Augen zu sehen.