Szenenfotos aus Robert Wilsons Inszenierung von Shakespeares »Sonette« im BE
Sämtliche Fotos © Wilhelm Ruprecht Frieling, 2009
Über die Bühne des »Berliner Ensemble« staksen menschliche Scherenschnitte. Grell geschminkte Gestalten mit dürren Beinen, hoch toupierten Haaren und Pumphosen tänzeln, springen, hüpfen, fliegen durchs Bild. Sie grunzen, schnaufen, stöhnen, gurren, kichern und lachen in aufwändiger Choreographie, die einem Ballett ähnelt. Mitunter sprechen sie einzelne Sätze, wiederholen diese, ziehen sie in die Länge und betonen sie wieder anders und aufs Neue. Dann singen sie, mal auf englisch, meist aber auf deutsch, mal einzeln, zu zweit, dann wieder im Chor. Unterbrochen werden sie von Glockenklang, Straßenlärm, Hupen und kakophonisch einsetzenden Streichern. Drei Stunden lang läuft dieses grell-bunte Inferno ab, unterbrochen nur von einer störenden Pause. Die legendäre Brecht-Bühne am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte liefert eine verstörende Traumwelt und zieht dazu sämtliche Register.
Wer dieses surreale Szenario atmet, der weiß sofort: er befindet sich mitten in einer quicklebendigen Inszenierung von Robert Wilson. Der amerikanische Regie-Altmeister hatte in den letzten Jahren am BE mit Brechts »Dreigroschenoper« und Büchners »Leonce und Lena« (mit der Musik von Herbert Grönemeyer) zwei Proben seines typischen choreographischen Tanztheaters geliefert, die das Publikum von den Stühlen riss. Wilson behandelt Sprache wie einen Körper, er lässt sie kreisen und verwickelt sie in einen mitreißenden Strudel aus Gesten, Gebärden, Bildern und Musik. Dem Zuschauer bietet er Sinnenfreuden pur. Augen und Ohren kommen voll auf ihre Kosten und werden überreichlich bedient.
Worum geht es? Üblicherweise wird auf der Bühne eine Geschichte erzählt. Das erleichtert dem Zuschauer das Verständnis und dem Rezensenten die Arbeit: er erzählt die Story, schmückt alles etwas aus, schmiert giftige Polemik in die Fugen, und schon ist seine Besprechung fertig. Das funktioniert hier nicht. Denn es geht um Sonette.
Sonette sind Klanggedichte mit jeweils 14 Zeilen in fester Metrik. Diejenigen, um die es hier geht, stammen von Shakespeare und erschienen erstmals 1609, also vor exakt 400 Jahren. William Shakespeare, über dessen wahre Identität sich die Forschung leidenschaftlich streitet, gilt als der König des Sonetts »in jambischen Pentameter mit weiblicher oder männlicher Kadenz«, um es literaturwissenschaftlich exakt auszudrücken und ein wenig Schaum auf den Kakao zu legen. Der Dichter des elisabethanischen Zeitalters hat 154 dieser fragilen Blüten erschaffen und damit einen Höhepunkt der englischen Renaissance und ihrer Widerspiegelung in Literatur und Dramatik inszeniert. Doch keine Angst: In den richtigen Händen werden diese Verse zu Dynamit.
Worum geht es in den Sonetten? Shakespeare wendet sich an einen »fair boy« und eine »dark lady« als scheinbar homoerotische Geliebte. Er appelliert an den jungen Mann, einen schönen Nachkommen zu erzeugen, um damit unsterblich zu werden. (»Im Vers zwingst du die Sterblichkeit. / Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn, / Solang dies steht, solang wirst du bestehn.«) Er spricht über das Altern, die Eifersucht, das Alleinsein, die Furcht vor Liebesverlust, aber auch über Tod, Tugend, Redlichkeit und die Dummheit der Welt.
Für sein dreistündiges Bühnenspiel wählte Robert Wilson 25 der insgesamt 154 Sonette aus und baute sie in ein bewegliches Bühnenbild ein, das ständig, und weitgehend offen sichtbar, umgebaut wird. Unterbrochen werden die Sonette durch Auftritte des Travestierstars Georgette Dee als lästermäulige Diseuse im schwarzen Samtkleid. Alles ist in ein ständig wechselndes energetisches Licht getaucht, das den Beleuchtern Schweißperlen auf die Stirn treten lassen dürfte. Jede Bewegung der Akteure wird exakt ausgeleuchtet, verfolgt und mit dem vollen Einsatz von Neonröhren, Flächenscheinwerfern, Farbfolien, Projektoren begleitet.
Und dann klingt da Musik. Rufus Wainwright, ein Opern-affiner Songwriter unternimmt einen wilden Ritt durch die Musikgeschichte und setzt von mittelalterlicher Tafelmusik über Tango und ungarische Zigeunerweisen bis hin zu Rockballaden alles ein, was sein Komponistenherz hergibt. Dabei hat er es geschafft, sich mit Robert Wilson derart exakt abzustimmen, dass eine nahezu vollständige, Atem beraubende Synchronizität zwischen dem Orchester und den Schauspielern entsteht, die sich bis in die kleinste Geste ausdehnt. Sein Soundtrack rollt der funkelnden Travestieshow einen farbenprächtigen Flickenteppich aus, auf dem die Darsteller agieren und kommt dabei ganz dicht an Shakespeares Motto im 76. Sonett »Den alten Wörter leih ich neue Zier, / Verwende neu, was schon so oft verwandt«.
Die Könige des Abends aber sind die Mimen, und das BE beweist erneut seinen Ruf, das derzeit beste deutschsprachige Schauspielhaus zu sein. Die zierliche, ungemein zerbrechlich wirkende Ruth Glöss als Narr, Jürgen Holtz als Königin Elisabeth und die inzwischen 86jährige, vom Alter schwer gezeichnete Inge Keller als Shakespeare sind die Zentralgestirne, um die sich alles dreht. Georgios Tsivanoglou spielt einen barocken Amor, der seinen Körper nahezu spielerisch und mit hoher Musikalität einsetzt. Christina Drechsler und Anna Graenzner in Hosenrollen, Anke Engelsmann als Sekretärin, die von Shakespeare Sonette entgegen nimmt, Ursula Höpfner-Tabori ihnen allen passen die Rollen, die Wilson ihnen zugedacht hat, wie maßgeschneidert. Eigentlich fehlte nur noch die herrlich schnoddrig-schnarrende Katarina Thalbach, um das Maß voll zu machen.
Wie ein Protestsong entlädt sich dann das berühmte 66. Sonett, das gleich zwei Mal in verschiedenen Formen dargeboten wird und deshalb hier in voller Länge wieder gegeben werden soll: »All dessen müd, nach Rast im Tod ich schrei. / Ich seh es doch: Verdienst muss betteln gehen / Und reinste Treu am Pranger steht dabei / Und kleine Nullen sich im Aufwind blähn / Und Talmi-Ehre hebt man auf den Thron / Und Tugend wird zur Hure frech gemacht / Und wahre Redlichkeit bedeckt mit Hohn / Und Kraft durch lahme Herrschaft umgebracht / Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat / Und Dummheit im Talar Erfahrung checkt / Und schlichte Wahrheit nennt man Einfalt glatt / Und Gutes Schlechtesten die Stiefel leckt. / All dessen müd, möchte ich gestorben sein, / Blieb nicht mein Liebster, wenn ich sterb, allein«.
Persönlicher Nachsatz
Mit Shakespeares Sonetten verbindet mich eine persönliche Leidenschaft. Die Texte wurden nämlich von Martin Flörchinger ins Deutsche übertragen. DDR-Nationalpreisträger Flörchinger spielte unter Langhoff ab 1953 im »Deutschen Theater« und ab 1956 im BE. Seine Übertragung der als unübersetzbar geltenden Sonette Shakespeares durfte ich in meinem damaligen Verlag heraus geben. Das Buch mit allen Sonetten ist unter dem Titel »Und Narren urteil’n über echtes Können« 1996 erschienen und nach Aussagen der führenden Internet-Buchhändler leider nur noch antiquarisch erhältlich. Flörchinger hätte sich gefreut, wäre es ihm vergönnt gewesen, seine Übertragung im BE miterleben zu dürfen. Doch leider kommt auch hier der Ruhm erst, wenn der Dichter schon gegangen ist.
Diese Aufführung möchte ich mir auch unbedingt anschauen! Ein All-Star-Stück sozusagen, im All-Star-Haus. Man könnte meinen auch die Inspizienten und die Vorhangschieber seien Großkünstler!
Sag an, vereehrter Herr, woher hast Du denn die tollen Szenenphotos, mit dem Dolche selbst selbst erlegt oder mit freundlicher Genehmigung?
Die nächsten Aufführungen sind am 28./29. April. Es gibt noch Restkarten: http://www.berlinerensemble.de/spielplan.php?c=1.
Die Szenenphotos habe ich mit einer Lumix DMC-TZ5 geschossen.
Ja, Abendkasse. Bedeutet doch sowas wie drängeln oder Schilder hochhalten und dabei mit Geldscheinen wedeln, oder geht das im „Kulturbetrieb“ freundlicher ab? Probieren werd ich´s wohl. Und ich dachte immer, die haben das im Theater nicht so gerne mit dem knipsen.
Versuch dein Glück, aber es ist aufgrund der wenigen Vorstellungen äusserst schwierig. Ruf doch mal tagsüber die Kasse an: +492414681501
Es gibt übrigens Fotoproben.
Danke für die Info. Ich war erst einmal im BE, bei Richard III. Da wurde ich eingeladen, und wußte daher schon Wochen vorher Bescheid, alles war organisiert. Mal schauen ob´s klappt.
Letzte Woche war ich im Theater 89 und hab mir ein Stück von Dirk Laucke angesehen, alter ford escort dunkelblau. So hiess das, ja. War auch schön, aber sicher anders. Sollte ich auch mal was drüber schreiben, hab aber nicht soviel Rezensionstalent. Und keine Fotos. Nichtmal Proben. Vielleicht kommt ja dennoch die Inspiration.
Siehst du, da dachte ich, alle Berliner Bühnen zu kennen und muss beim Theater 89 schon passen. Schreib mal drüber in Deinem BLog, Photos kannst du bestimmt von deren Pressestelle bekommen. Ich bevorzuge grundsätzlich eigenes Material, aber das hat mit meiner Vorstellung von Journalismus zu tun, das musst du nicht als Maxime nehmen.
Wow, das würde mich glaube ich auch begeistern. So weit ich weiß, war Wilson noch nie in Wien. Mir ist der Name irgendwie im Hinterstübchen geläufig, kann ihn aber nicht mit einer Sache abrufen.
Ich glaub, ich muss wieder einmal nach Berlin.
Toll beschrieben, das macht Lust auf mehr!
Little Lilly in Berlin? Das wäre doch einen eigenen Eintrag wert: »Große Grantlerin besucht Sprayathen. BLOGSDORFER ANZEIGER trifft die gefürchtete Bloggerin im Eisbärengehege.«
Servus Frieling,
sehr genial geschrieben und macht Lust auf: „ich muss dahin!“ Schade das so viele Leute heute gute Unterhaltung nur noch RTL2 etc pp. zutrauen. Also hätte ich die Wahl zwischen 3 Jahre Fernsehen und einem Abend, wie von Dir beschrieben, würde ich sofort den Abend im Theater wählen.
Vielen Dank für den Einblick ins Kulturelle.
GLG Blackcowboys
Freut mich sehr, dass es dich anregt!
Da ich selbst äusserst selten den Flimmerkasten einschalte, darf ich mit innerer Freude bekennen, höchst selten in diesen Gewissenskonflikt zu geraten.
😉
Das oben zitierte 66. Sonett wurde von Christa Schuenke ins Deutsche übertragen. Ihre Übersetzungen wurden auch im BE in Wilsons Inszenierung der Shakespeare-Sonette verwendet, mit Ausnahme des Sonetts Nr. 23, welches in der Übertragung von Martin Flörchinger für die Inszenierung ausgewählt wurde.
Die Sonette sind „seid Wochen restlos ausverkauft“, leider.
Probenfotos vom Theater 89 sind angefordert, die PR-Abteilung wird sich mit mir in Verbindung setzen. Deine Vorstellungen von Journalismus kommen der meinen sicher recht nahe, doch bin ich dilettierender Amateur. Vielleicht kann ich ja noch was lernen? 😉
Dankeschön, Bettina, für diese ergänzende Info, die sich so aus dem Programmheft leider nicht erschließt.
Es ist für eine Theater wohl immer schwer, die Publikumsreaktion auf ein Stück einzuschäzen. SPätestens seit »Leonce und Lena« dürfte das BE aber mitbekommen haben, welche Wucht Wilson-Inszenierungenmit entsprechender Musik haben dürften. Deshalb finde ich es bedauerlich, dass nur sehr wenige Vorstellungen angesetzt sind, und auch an denen konnte nur teilnehmen, wer sich lange vorher darum bemüht hat.
Mein Tipp: Abonnier das Programm des BE und schlag rechtzeitig zu, das lohnt sich! (Ist natürlich konkret kein Trost.)
Gute Nachrichten für Theater-, Klassik- und Lyrikfreunde:
Martin Flörchingers geniale Übertragung der Shakespeare-Sonette ist selbstverständlich nicht nur antiquarisch (auch kompetente Opernblogger können sich mal irren), sondern auch ganz normal über den Buchhandel zu beziehen. Auch bei amazon.de oder buchhandel.de ist das Prachtstück erhältlich, ein echter Evergreen!
Dem Vergleich mit Christa Schuenkes Übertragungen hält Flörchinger allemal stand: Schon die aus dem 66. Sonett stammende Titelzeile seiner im Frieling-Verlag Berlin erschienenen Shakespeare-Ausgabe Und Narren urteiln über echtes Können kann es mit Schuenkes Und Dummheit im Talar Erfahrung checkt durchaus aufnehmen, zeigt außerdem eindrucksvoll, wie unterschiedlich die Interpretation der 400 Jahre alten Texte ausfallen kann. Weiterlesen lohnt sich also! Theatergang auch.
William Shakespeare:
Und Narren urteiln über echtes Können
Sämtliche Sonette übertragen von Martin Flörchinger
Reihe: Lyrik
160 Seiten, Hardcover mit Klebebindung
EUR 9,90 · ISBN 978-3-8280-0053-7
http://www.frieling.de
Liebe Verlagsmitarbeiterin,
da hätte ich doch vielleicht besser mal vorher nachgeschaut, bevor ich öffentlich über Irrungen und Wirrungen urteile, die Lieferbarkeit behaupte und in Eigen-PR mache.
Bei Amazon ist der Titel nämlich aktuell nicht bzw. nur über Drittanbieter antiquarisch lieferbar, und bei Buchhandel.de findet er sich überhaupt nicht mehr. Statt dessen kommt bei der ISBN-Suche der Hinweis »Leider wurde zu Ihrer Suchanfrage kein Ergebnis gefunden.« Auch bei der ISBN-Suchmaschine scheint lediglich der Hinweis auf »Die ISBN Nummer 9783828000537 ist leider nicht in der Datenbank vorhanden.«
Selbst im BE findet sich kein werbender Hinweis auf das Buch, vom dortigen Büchertisch wollen wir gar nicht reden.
Sorry, aber das ist ein öffentliches Armutszeugnis für den Verlag!
Aber, aber, lieber Herr Frieling, so viel Groll gegen das Haus, das Sie mit Herzblut aufgebaut haben? Nur gut, dass die von uns angegebenen Informationen nachprüfbar sind. Die ISBN kann man übrigens auch mit Bindestrichen angeben. Um die Verlags-PR ging es uns nicht, lediglich um Richtigstellung der falschen Information. In Ihrem Sinne wäre es doch auch, dass die Welt auf die wundervollen Sonetten nicht verzichten muss, oder?
Also, liebe Leute, probiert es aus, das Buch zu bestellen!
Hier sieht man den Artikel bei amazon.de oder auch bei buchhandel.de.
Übrigens werden wir angesichts des zu erwartenden Ansturms der Opernblogger den amazon-Bestand sogleich auf 10 erhöhen. Viel Spaß mit den Sonetten!
Toll,
KathrinAnne!Ich gratuliere Dir zu Deinem mitreißendem Beitrag. Die Kommentare zu der Übersetzung von Martin Flörchinger zeigen einmal mehr, welche Beachtung Dein Blog immer wieder findet.
An Lesern mangelt es trotz der eingeschränkten Zielgruppe nicht, lieber Bruno. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Twitter, Facebook, Google, yahoo und viele andere Dienste helfen dabei mit.
Hallo, lieber Rupi,
Dir und allen, die es interessiert: Morgen, am 07.09.09 sendet Arte um 22.40 Uhr eine Aufzeichnung dieses Theaterabends aus dem BE. Ich freue mich schon.
LG B
Danke. Das ist sehenswert!
@blackcowboys
Ironischerweise lief Robert Winstons Inszenierung der Sonette dieses Wochenende gerade dieses Wochenende nachts in voller Länge auf Arte.
alles … alles … alles verpasst! son mist!