Der in Kanada lebende Schriftsteller Yann Martel erzählt in seinem wundervollen Roman »Schiffbruch mit Tiger« die Geschichte des indischen Schülers Piscine Molitor Patel, der seinen französischen Vornamen einem prächtigen Schwimmbad verdankt. Es dauert jedoch nicht lange, und der Geistesblitz des Bösen durchfährt einen seiner Mitschüler, der eines grauen Tages ruft: »He da kommt Pisser Patel«. Auf dem Haupte des Jungen lastet fortan eine Dornenkrone. Immer wieder wird er mit der Frage konfrontiert: »Ich muss mal. Wo ist denn hier für Pisser?« Selbst die Lehrer, die ihm nichts Böses wollen, sprechen seinen Namen aus schierer Trägheit falsch aus.
Als Piscine auf die Oberschule wechselt, entschließt er sich zu einer Radikalkur. Der Unterricht beginnt, wie stets am ersten Schultag, mit dem Aufsagen der Namen. Als Piscine an der Reihe ist, springt er auf und läuft an die Tafel. Bevor der Lehrer etwas einwenden kann, greift er ein Stück Kreide und schreibt mit, was er sagt: »Ich heiße Piscine Molitor Patel, besser bekannt als «, und er unterstreicht doppelt die ersten beiden Buchstaben seines Vornamen, » Pi Patel«. Um es noch deutlicher zu machen, fügt er hinzu: »Pi = 3,14« und zeichnet einen großen Kreis, den er dann mit einem Strich durch die Mitte in zwei Hälften teilt, damit auch der Letzte begreift, auf welchen Grundsatz der Geometrie der Junge anspielt. So wird der »Pisser« zu Pi, und ein neues Leben beginnt für den jungen Mann.
Pi Patel wächst in einem Paradiesgarten auf: Sein Vater ist Direktor eines gepflegten Zoologischen Gartens, der in der südindischen Stadt Pondicherry betrieben wird. Er erfährt viel über die verschiedenen Tiere und das aus Sicht der Zooleute gefährlichste aller Lebewesen: den Menschen. Im Zoobetrieb geht es darum, die Tiere an den Menschen zu gewöhnen und ihre natürliche Fluchtdistanz zu verringern, das ist der Abstand, den ein Tier zu seinem natürlichen Feind hält. Pi lernt, dass gesunde Zootiere nicht aus Hunger oder Mordlust angreifen, sondern weil der erforderliche Abstand zu ihnen unterschritten wird. Und er begreift die Rolle des Alphatieres: wenn zwei Geschöpfe sich begegnen, wird derjenige, dem es gelingt, den anderen einzuschüchtern, als der Ranghöhere anerkannt, und zu einer solchen Rangentscheidung ist kein Kampf erforderlich, in manchen Fällen genügt eine Begegnung.
Diesem Wissen soll der junge Mann sein Leben verdanken. Denn die Familie entscheidet sich, mit Sack und Pack, einschließlich der meisten Tiere, von Indien nach Kanada auszuwandern. Die weite Reise erfolgt auf einem Überseedampfer, das indes bei Nacht und Nebel kentert und spurlos versinkt. Pi Patel überlebt das Inferno und flüchtet sich in ein Rettungsboot. Wie groß ist jedoch sein Schreck, als aus den Fluten weitere Überlebende auftauchen, die das Rettungsboot als ihre Insel ansehen: eine grässliche Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan, ein Zebra und ein bengalischer Königstiger, der auf den Namen »Richard Parker« hört und eine Attraktion im Zoo war.
Die Überlebenden massakrieren sich bald gegenseitig, nur Pi Patel und Richard Parker bleiben zurück. Der Junge versucht anfangs, sich auf ein selbst gebasteltes Floß vor der Bestie zu flüchten. Doch dann beginnt er vorsichtig, seinen eigenen Bereich abzustecken, den das Tier schließlich akzeptiert. Er zähmt den Tiger, der ihm gehorcht, zumal er von ihm mit frisch geangelten Fischen gefüttert wird. Hilflos treiben sie im Ozean. Es beginnt eine monatelange Odyssee, die Martel mit derartig großer sprachlicher Anmut und sensiblem Einfühlungsvermögen erzählt, dass der Leser jede Phase des Zusammenlebens zwischen Mensch und Tier mitempfinden kann.
»Schiffbruch mit Tiger« ist eine sowohl witzige wie auch abenteuerliche Erzählung mit philosophischem Tiefgang. Obwohl die Handlung zwischen permanenter Todesangst und listigen Überlebensstrategien pulst, enthält sie herrliche Szenen voller Komik und Humor. Der Text bietet dem Leser leichten Zugang auf verschiedensten Ebenen und berührt auch Fragen des religiösen Verständnisses. Die Story endet skurril, die Schiffbrüchigen entdecken ein seltsame Insel aus Algen und werden schließlich an Land und in ein neues Leben gespült.
Yann Martel
Schiffbruch mit Tiger. Roman
Fischer Taschenbuch
ISBN 3-596-50956-4
Weitere Leseempfehlungen von Wilhelm Ruprecht Frieling auf Literaturzeitschrift.de
Bei deiner Rezension musste ich sofort an einen meiner Lieblingsschriftsteller denken: John Irving. Indien, eigenwillige Tiere, Komik und Tragik und und und.
Also frage ich dich, geschätzter Berater: Liege ich da richtig?
Gruß & danke
Uli
Die Antwort fällt mir schwer, weil ich nicht alles von irving kenne. Ich glaube, Martel schreibt leichter und ein wenig phantastischer. Aber in Punkto Komik sind sie sich sehr ähnlich. Ich würde mich freuen, wenn Du selbst mal vergleichst und darüber berichtest.
»Schiffbruch mit Tiger« hat ein herrliches Taschenformat, das es optimal für Reisende macht, und es ist 528 Seiten stark und kostet nur zehn Euro – das sind optimale Voraussetzungen, bei Dir Gehör zu finden, wenn ich es richtig sehe.
Das hört sich schon sehr gut an, besonders die 528 Seiten; derzeit schenkt mir die Deutsche Bahn viel Zeit zum Lesen. Gerade ist „Willkommen in Wellville“ eingetroffen und ich freue mich schon darauf.
Ich will ja nicht lästig sein, aber zum neuen Roman von Norman Mailer kannst du wohl noch nichts sagen? Habe sehr unterschiedliche Kritiken dazu gelesen.
»The Castle in the Forest«? Da muss ich leider noch passen. Schreib Du doch mal eine Rezension, wenn Du es gelesen hast. Mehr Leute – mehr Empfehlungen, Du bist doch eine ausgemachte Leseratte!
Danke für den Tipp. Es kommt auf die Liste mit den -zig anderen Büchern. Aber bald habe ich ja viiiieel Zeit 🙂
Leider ist das Buch, das sich in einer Minute lesen lässt, noch nicht erfunden. Doch vielleicht gut so: sonst müsste ich jede zweite Minute eine Rezension schreiben, und wer soll die dann lesen?
:). Ich finde es sehr schön, dass jede Rezension und jedes Buch eine eigene Zeit sowohl hat als auch braucht.
Turn, Turn, Turn (die Blätter um 😉
Manueller „Gegen-Trackback“ von tokbela.de (:
Schiffbruch mit Tiger auf dem TokBlog
Bei „Castle in the Forest“ werde ich wohl auf die Paberback-Ausgabe warten. Aber sonst hätte ich schon Lust, mal eine Rezension zu schreiben. Wenn du mich lässt, gerne auch hier in der Literaturzeitschrift. Allerdings lese ich derzeit nicht viele „neue“ Bücher, insofern dürfte man dann die Blogbeschreibung nicht so dogmatisch sehen.
Das wäre toll, ich schreibe doch auch über Bücher, die nicht brandaktuell sind. Den »Schiffbruch« beispielsweise habe ich erst jetzt auf Empfehlung entdeckt.
Ich sehe, du hast die Seitenanzahl entfernt. Ich wollte mich schon beschweren, denn das Fischer-Taschenbuch, das gestern ankam, hat nur 382 Seiten.
Gruß
der Spieler