Der deutschsprachige Literaturbetrieb wird unverändert von so genannten »Edelfedern« bestimmt. Sie entscheiden darüber (oder versuchen es zumindest), wer »gute« oder »schlechte« Literatur verfasst. Dabei kann es gelegentlich zu Stellungskriegen zwischen den Kritikern kommen, und bisweilen dreht der Wind sogar. Derzeit geschieht das mit dem bisherigen Werk des Schweizer Autors Martin Suter.
Mit dem »Suterismus geht Europa unter«, behauptet das Feuilleton des Hamburger SPIEGEL, dessen Redakteure einst zu den größten Fans der Suter-Romane zählten. Mit dem Erfolg von Suter habe der Diogenes- Verlag »seinen historischen Auftrag erfüllt, die deutsche Literatur zu zerstören«, urteilt Georg Dietz und erklärt: »Suter täuscht Welt nur an. Er spielt sie uns nur vor. Er tut nur so, als wisse er, wovon er erzählt.«
Suter sei »gar kein Schriftsteller«, behauptet Ulrich Greiner in der »Zeit«, »wenn man darunter jemanden versteht, der die Kunst sprachlicher Aneignung und Durchdringung beherrscht. Kurz gesagt: Suter kann nicht schreiben.«
Ob es sich bei derartigen Verrissen lohnt, Suter zu lesen? Es trifft wohl zu, dass der Schweizer Autor aus der dekadenthohen Sicht eines wohlhabenden Lebemanns schreibt. Seine Helden sind Starjournalisten, erfolgreiche Wirtschaftsanwälte oder Mitarbeiter steinreicher Konzernbosse. Allein daraus auf ein nicht vorhandenes literarisches Talent zu schließen, wäre allerdings mehr als dünn.
Besonders in seinen ersten drei Romanen, die er »Neurologische Trilogie« nennt, versteht es der Autor, psychische Prozesse äußerst kenntnisreich und fachkundig zu schildern und soziale Auswirkungen auf den Betroffenen wie seine Umgebung deutlich zu machen. Da er seine Romane zusätzlich in das Gewand gesellschaftskritischer Kriminalliteratur kleidet, entsteht bei der Lektüre eine deutliche Sogwirkung. Suter fesselt, und er löst Fragen aus, die sich vielen Zeitgenossen stellen.
In seinem Erstling »Small World« geht es um das Thema Alzheimer. Einfühlsam und kenntnisreich beschreibt der Schweizer den Prozess des Verfalls seines Protagonisten sowie die Reaktionen seiner Umwelt auf seinen Krankheitsverlauf. Dass die Geschichte um das Schrumpfen der Welt des Hauptdarstellers schließlich in eine Kriminalgeschichte mündet, gibt der Lektüre eine spezielle Note und macht sie doppelt spannend.
Die auf das psychedelische Album »The Dark Side of the Moon« der britischen Band Pink Floyd anspielende Kriminalgeschichte »Die dunkle Seite des Mondes« bildet den zweiten Teil von Suters »neurologischer Trilogie«. Er behandelt darin die schleichende Persönlichkeitsveränderung und zunehmende Orientierungslosigkeit sowie die Bipolare Affektive Störung des menschlichen Charakters.
»Ein perfekter Freund« schließlich thematisiert den partiellen Gedächtnisverlust samt seiner sozialen Auswirkungen, die der Protagonist nach einem schweren Schlag auf den Kopf erleidet. Wie in dichtem Nebel tastet sich der Leser mit dem Opfer durch dessen jüngere Vergangenheit und begibt sich auf eine unerwartete Spurensuche.
Jeder der drei Bände der „neurologischen Trilogie“ steht unabhängig voneinander. »Ein perfekter Freund« fällt allerdings gegenüber den anderen beiden Romanen ab.
Martin Suter wählt für seine Bücher keine Hochsprache oder gar Literatursprache, er schreibt in Umgangssprache. Ihm daraus in literarischer Hinsicht einen Strick drehen zu wollen, halte ich für den verzweifelten Versuch einer selbst ernannten Schar von Gatekeepern des Literaturbetriebs, Literatur weiterhin als etwas Abgehobenes, zwingend Erklärungsbedürftiges betrachten zu wollen. Die geschieht nicht zuletzt, um die eigene Existenzberechtigung zu begründen.
Früher hieß es mal, es lohne sich, das zu lesen, was Großkritiker verreißen. Im Fall Suter erhält dieser alte Lehrsatz erneut Berechtigung.
Meine Rezensionen der Bücher von Martin Suter finden sich auf Literaturzeitschrift.de (bitte klicken).
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Ich kenne das Werk von Martin Suter kaum. Ulrich Greiners Auslassungen waren aber nicht gerade von Kenntnis bestimmt – von Kenntnis der Schweizer Verhältnisse. http://crazyprocesses.blog.de/2011/01/06/ulrich-greiner-martin-suter-10313102/
Bisher kenne ich von Suter nur zwei Bücher: „Die dunkle Seite des Mondes“ & „Lila Lila“; das Erste war Top, das Zweite ein Flop. Das mit der „neurologischen Trilogie“ war mir bislang nicht bekannt, ich werte das mal als Lektüretip. Besten Dank!
Interessant, was Du über die Greinerschen Auslassungen schreibst. Danke für den Link!
Dieser Artikel hat auf jeden Fall meinen Blickwinkel auf den mir bislang nur vom Namen her bekannten Autor verändert. Obwohl ich oft gerade Werke aus der „Hochliteratur“ meide um keine Komplexe zu bekommen und in schriftstellerische Selbstzweifel zu versinken, werde ich wohl bald mal eins dieser Werke lesen.
Danke!
„Lila Lila“ kenne ich noch nicht – magst Du es vielleicht besprechen?
„Small World“ empfehle ich uneingeschränkt, wenn Du den „Mond“ sehr gut bewertest. Der Roman mich sehr berührt, zumal ich im Bekannten- und Verwandtenreis selbst Demenz und ALzheimer erlebt habe, und es hat einen durchaus ähnlichen Spannungsbogen.
Mir wurde die Lektüre von einer Neurologin empfohlen, die das Einfühlungsvermögens Suters in die jeweiligen Krankheitsbilder lobte.
Ich kann die Frage nur für mich im Moment beantworten: Nein.
Gern geschehen! Danke für den Trackback!
Es ist völlig richtig, dass sich der (unabhängige) Leser auf keinen Fall davon leiten lassen sollte, wie diejenigen urteilen, die sich für kompetente Literaturkenner und -kritiker halten, nur weil sie im Feuilleton eines bekannten Printmediums arbeiten.
Es gibt zahllose Beispiele von Fehlurteilen dieser Damen und Herren.
Martin Suter steht weit oben auf meiner Leseliste. Deine drei Besprechungenhaben ihn noch etwas höher rücken lassen.
Aus inhaltlich-ästhetischen Gründen?
Werde Suter gleich mal anschreiben und bitten, an seinen Millionentantiemen beteiligt zu werden! 😉
jaja, martin suter,
der in dem buch „lilalila“ genau eine geschichte veröffentlicht, die so richtig der doppelmoral unseres heutigen daseins entspricht: ein junger mann findet in einem nachtisch ein manuskript. um seine frau zu beeindrucken, sagt er, er hat es geschrieben. sie sehr beeindruckt, schickt es heimlich zum verlag, das buch wird natürlich der renner und schon wird o.g. junger mann (beinahe hätte ich geschrieben: minister) bestsellerautor…
das verwirrspiel geht dann noch weiter
man muß den menschen zeigen, was originärität alles bedeutet und kann.
Ich gestatte mir mal, auf Deine lesenswerte Rezension von Suters Buch „Der Koch“ auf http://www.literaturzeitschrift.de hinzuweisen.
Es verlockt mich im Moment nicht.
Ich stand neulich mit einer guten Freundin angeregt diskutierend in der Buchhandlung und wir sprachen auch über genau die Frage, die Du im Titel stellst.
Ich habe Small World gelesen und war davon sehr berührt. LilaLila hingegen war nicht so meins, deswegen zögere ich auch noch mit den anderen Werken. Meine Freundin hingegen empfahl mir die beiden anderen von Dir oben erwähnten Bücher
auch nachdrücklich. Dass es eine neurologische Trilogie ist, war mir bis gerade noch gar nicht klar. Danke für den erklärenden Hinweis. Ich denke, beim nächsten BücherEinkaufsbummel nehme ich mir dann doch eins mit.
Was Rezensionen im Allgemeinen angeht, lese ich diese gerne und oft, aber mit distnazierter Vorsicht. Nur den Rezis, deren Verfasser ich gut einschätzen kann, folge ich blind. 😉
„Neurologische Trilogie“ hat Suter die drei erwähnten Romane genannt, weil sie jeweils Veränderungen im Hirn thematisieren: Demenz – Alzheimer, Bipolarität – Persönlichkeitsspaltung, Teilamnesie – Erinnerungslücken.
Suter geht souverän mit diesen schwierigen Themen um und verzichtet auf akademische Schnörkel, das macht mir die Lektüre sympathisch. Über seine anderen Bücher kann ich mangels Kenntnis nichts sagen. Vielleicht habe ich auch das große Glück gehabt, zu seinen besseren Arbeiten gegriffen zu haben.
Bisher habe ich nur ein Buch von Suter gelesen, Die dunkle Seite des Mondes, es hat mir sehr gut gefallen. Ich weiß nicht, warum ich ihn dann aus den Augen verloren habe. Jetzt bin ich neugierig auf Small World.
Ich habe noch nie was drauf gegeben, was die Kritiker sagen, ich lese das, was mich anspricht und urteile dann selbst, ob’s gefällt oder nicht!
Danke für den Tip!
Ein herzliches Dankeschön für Dein Feedback!
Typisch deutsch: erst aufs Podest stellen, dann runterstoßen
Als Holländer kenne ich den Autor Martin Suter zwar nicht, aber ein Autor braucht meines Erachtens keine Schönschreiberei zu betreiben um als hochliterarisch eingestuft zu werden. Stil ist allerdings wichtig, jedoch kann ja auch Umgangssprache im literarischen Sinne durchaus funktionell sein. Der Stil muss im Einklang mit der Erzählung/den Absichten des Autors sein. So hat der Stil William Faulkners etwas Vertraktes, aber das ist ja ganz in Übereinstimmung mit den Personen und Ereignissen in seinen Romanen und Erzählungen.
Den kannte ich bisher nicht, hört sich aber gut an. Danke für den Tipp!
Um noch eine Korinthe zu kacken: Bei dem Pink Floyd-Hit bitte noch ein „-Album“ einfügen, denn einen Song diesen Titels gibt es nicht. 😉
Danke für den Hinweis, mein Bester, ich liebe Korinthen!
Ich bin ein Meister im Wissen unnützer Dinge!
Nichts ist unnütz. Er kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen
Da hätte ich Chancen auf die Goldmedaille…
Meine Stimme hast Du! 😉
Zurück zum Thema: 😉
Du sagst, Suter schreibt nicht in Hoch- oder Literatursprache, sondern in Umgangssprache. Die handwerklichen Grundlagen der Schriftstellerei beherrscht er aber schon? Diese heftigen Kritiken, die ja quasi den Untergang des Abendlands heraufbeschwören, kann ich mir nämlich nicht so recht erklären.
Die drei hier genannten Romane sind sauber gearbeitet, hinsichtlich Aufbau und Dramaturgie lässt sich davon manches lernen. Nicht ohne Grund hat er inzwischen ein anspruchsvolles Millionenpublikum begeistert.
Die aktuelle Aufregung in den „Intelligenzblättern“ kann ich deshalb in keiner Weise nachvollziehen, zumal die Herrschaften noch vor kurzer Zeit Suter als Entdeckung handelten. Sie beziehen sich allerdings auch explizit auf Suters jüngstes Werk, das ich noch nicht gelesen habe. Doch selbst wenn dieser Roman daneben gegangen ist, liefert es noch lange keinen überzeugenden Grund, den Autor in toto zum Teufel zu schicken.
Es ist immer dasselbe, erst loben sie einen in den Himmel, um ihn dann kaltlächelnd abzuschießen. Rezensenten sind schon ein besonderer Menschenschlag (Anwesende natürlich ausgenommen! 😉 ).
Für mich hat es sich auf jeden Fall gelohnt, Suter zu lesen. Ich mag seine Sprache und die Themen. „Small World“ ist als nächstes dran, das kenn ich noch nicht. Und ich freu mich, wenn Neues von ihm kommt.
Die beiden anderen Titel der „neurologischen Trilogie“ kennst Du?
Ich hab‘ bisher nicht gewusst, dass die Zeitungsfeuilletons die neuen Suters zerreissen, bin aber für mich anscheinend zum gleichen Ergebnis gekommen: Lila Lila ist super, eine nachfühlbare Liebesgeschichte verbunden mit einer relevanten Thematik (Urheberschaft).
Die weiteren Bücher sind halt nur Krimis. Und die psychologische Genauigkeit der Beschreibung von Alzheimer in Small World zweifle ich mal an, wenn am Ende die Zerstörung von Hirngewebe verschüttete Kindheitserinnerungen freilegt – das erinnert mich an doch an „Rain Man“.