Der am 2. Juni 1967 erfolgte Todesschuss auf den Studenten Benno Ohnesorg ließ das gesellschaftliche Klima in Deutschland explodieren und bestimmt in seinen Auswirkungen die politische Diskussion bis in unsere Tage, also ein halbes Jahrhundert später. Dass die künstlerische Aufarbeitung des Themas in der kleinen Neuköllner Oper erfolgt statt am historischen Ort des Geschehens, der Deutschen Oper Berlin in der Bismarckstraße, zeigt, wie schwierig der (selbst)kritische Umgang mit der jüngeren deutschen Geschichte immer noch ist. Am 2.6.2017 hatte »Der Schuss 2.6.1967« Premiere.
Sechs Darsteller der Neuköllner Oper spielen auf einer kalkweißen Bühne, auf der sich gelegentlich Jalousien öffnen und den Blick auf das Ensemble Adapter freigibt, das für die Musik sorgt. Die Schauspieler schlüpfen in verschiedene Rollen, um damit die Akteure des 2. Juni darzustellen und Einblicke in ihre Gedankenwelten zu geben, wobei sie von Videoprojektionen untermalt werden. Das Stück beginnt mit einem Eingangschor, der Losungen der damaligen Anti-Vietnam-Bewegung skandiert: „Bürger runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong“, „Hoch die internationale Solidarität“ und „Ho, Ho, Ho Chi Minh“.
Ein junges Paar, sie haben vor wenigen Tagen geheiratet, stehen vor der Deutschen Oper, um den Schah von Persien auszupfeifen, der als Gast der Stadtregierung mit seiner Frau Farah Diba eine Aufführung von Mozarts „Zauberflöte“ erleben will. Der junge Mann, offenbar Benno Ohnesorg, schickt seine Frau heim, denn die Stimmung vor der Oper kocht: Ein paar 100 Studenten pfeifen den Schah aus, 50 „Jubelperser“, eigens eingeflogene Mitarbeiter des persischen Geheimdienstes SAVAK dreschen mit Latten auf die Demonstranten, aufgeputschte Polizisten knüppeln wahllos auf Männer, Frauen und Kinder, die in einer „Leberwurst“ gefangen sind, im Schutze eines Bauzauns werfen Zivilbeamte aus dem Hinterhalt Steine auf ihre eigenen Kollegen, um die Stimmung anzuheizen … Einige Studenten, darunter Ohnesorg, flüchten sich in einen Innenhof, in dem der junge Student schließlich vom besten Schützen der Berliner Polizei, Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras, mit einem aufgesetzten Schuss erledigt wird.
Dies alles muss der Besucher von „Der Schuss“ wissen, wenn er dem Stück halbwegs folgen will. Denn die Inszenierung arbeitet bewusst nicht dokumentarisch, sie spiegelt vielmehr innere Gedanken der jungen Frau, die ahnt, bald Witwe zu werden. So findet sich der Zuschauer bald in der deutschen Oper, wo der Intendant, es war damals Gustav Rudolf Selmer, die hohen Gäste begrüßt und süffisant erklärt, mit dem Pöbel würde draußen kurzer Prozess gemacht. So wird der Gegensatz zwischen dem persischen Diktator und seinen Freunden im Inneren des Opernhauses und den gegen seine Terrorherrschaft demonstrierenden Demokraten auf der Straße deutlich.
Dann aber verschwimmt das Stück. Statt eine Geschichte zu erzählen, verliert sich die Inszenierung immer mehr in Andeutungen und Reflexionen. Es treten die Spaßguerilla und Vertreter der Kommune Eins auf, Ulrike Meinhof und Andreas Baader – also die spätere RAF – werden angedeutet. Natürlich hat das alles im großen ideengeschichtlichen Zusammenhang miteinander zu tun. Tatsächlich gab es aber damals, wie der Berichterstatter als Zeitzeuge erinnert, erhebliche Widersprüche zwischen den von Rudi Dutschke inspirierten Studenten, die sich für den friedlichen Marsch durch die Institutionen aussprachen und jenen Kräften, die später den gewaltsamen Weg gingen.
»Eher dem Nachhall folgen,« will der Librettist und künstlerische Leiter der Neuköllner Oper, Bernhard Glocksin, »subjektiv, mit fiktiven Figuren und Bildern, in Gefühlen, Träumen und einem Klangraum, der das Reale oder sein Abbild nur zitieren darf, um Raum zu schaffen für die Subjektive, in der jeder Einzelne seine Narration finden wird.«
Zumindest der von Arash Safaian geschaffenen Musik gelingt dieses Kunststück. Der Komponist greift in seinem Klangbild Elemente von Stockhausen bis zum Rock auf und abstrahiert damit die Gedanken der jungen Witwe. Die siebenköpfige Band, das deutsch-isländische Ensemble Adapter serviert seine Musik so kraftvoll und leidenschaftlich, dass es die Stimmen der Darsteller in den Gesangspartien häufig übertönt.
Den stärksten Eindruck der Premierenvorstellung von »Der Schuss 2.6.1967« hinterließ der zugleich jüngste Darsteller. Der gerade mal zwölfjährige Jonas Heinrich spielt derart konzentriert und punktgenau, wie man es bei Kinderdarstellern selten erlebt. Wie aus der Pistole geschossen pariert er, als seine (Bühnen-)Mutter von einem Eingriff ins »Stammhirn« spricht, mit »Stammheim«. Dieser Moment des befreienden Lachens, das die Produktion dem Publikum bescherte, wirkt vielleicht nachhaltiger als manches andere.