In die überzeichnete Karikatur der Figur des Sixtus Beckmesser als jüdische Fratze mündet die Interpretation der »Meistersinger von Nürnberg« von Regisseur Barrie Kosky im Bayreuther Festspielhaus.
Bereits beim zehnminütigen Vorspiel der »Meistersinger von Nürnberg« herrscht reges emsiges Treiben auf der Bühne im Bayreuther Festspielhaus: In Richard Wagners nachgebautem Salon von »Villa Wahnfried« empfängt der hektisch umherspringende Meister im Rembrandt-Look seinen Schwiegervater Franz Liszt, den Dirigenten Hermann Levy und andere illustre Gäste.
Bilder, Pakete und Noten werden vom Personal hereingetragen, der Hausherr versprüht Parfum aus bunten Flakons, Frau Cosima hat Migräne und dem Flügel entsteigen als Wagner-Replikate die Söhne des Meisters. Stühle und Sessel werden in Richtung Publikum gedreht. Es steht eine Privatvorführung der »Meistersinger von Nürnberg« an.
Glaubt der Zuschauer während dieser Eingangsszene noch, in einer Filmszene mit vorzüglichem Kostümbild zu sitzen, so verwandeln sich die vermeintlichen Schauspieler kurz darauf in Sänger. Wagner wird zu Hans Sachs, Levy zu Sixtus Beckmesser, Liszt zu Veit Pogner. Wie in einem Kammerspiel präsentiert Barrie Kosky, Chef der Komischen Oper Berlin, den ersten Aufzug von Richard Wagners monumentalem Werk, und der Zuschauer staunt in eine Guckkastenbühne.
Worum geht es in »Die Meistersinger von Nürnberg«?
In Wagners Dreiakter möchte ein verliebter Ritter ein Mädchen erobern, das als Preis eines Sängerwettstreites ausgesetzt wurde. Dazu muss der junge Mann allerdings Widersacher besiegen und in die Geheimnisse der Meistersinger eindringen, die den Sängerwettkampf ausschreiben und sich hinter einem komplizierten Regelwerk verstecken. So weit der Plot.
Richard Wagner verarbeitete das Thema zu einer großen Künstleroper mit einer enormen Portion Humor, feinstem Sprachwitz, Situationskomik und Spott, während auf der Bühne die Fetzen fliegen. Es geht inhaltlich darum, die Freiheit und Weiterentwicklungsmöglichkeit von Kunst zu vertreten, statt diese in ein enges Regelwerk zu zwingen.
Um den Konflikt zwischen Alt und Neu, zwischen Gestern und Morgen zu verdeutlichen, schuf Wagner die Figuren des Schuhmachers Hans Sachs als Vertreter der Moderne und des Stadtschreiber Sixtus Beckmesser als seinem konservativen Gegenspieler.
Wagner schildert Beckmesser im Gegensatz zu seinem besonnenen und progressiv eingestellten Protagonisten Hans Sachs als besserwisserischen Erbsenzähler, der sich aber im Ergebnis mit seiner Haltung nur selbst schadet und unsterblich lächerlich macht. Der Name »Beckmesser« ging sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Vorlaute Zeitgenossen, die gern andere korrigieren, werden als »Beckmesser« bzw. »beckmesserisch« bezeichnet. Der Duden übersetzt die Wortbedeutung »beckmessern« mit »kleinlich tadeln, kritisieren«.
Ist Beckmesser wirklich der »ewige Jude«?
Sixtus Beckmesser ist keine Gestalt, die Wagners Phantasie entsprang. Noch im 17. Jahrhundert war vom »gülden Ton« eines Sixt Beckmesser die Rede. Da sein Name aber in den Archiven fehlt, besteht Grund zur Vermutung, der Meister habe tatsächlich »Sixt Beck« geheißen, und der Namenszusatz »messer« sei ein Hinweis auf seinen Beruf als Messerschmied. In den Archiven der Stadt Nürnberg wird 1539 die Witwe eines Sixt Beck genannt; ferner bestand eine Messerschmiede namens Beck bis ins 17. Jahrhundert.
Mit der Figur Beckmessers karikiert Wagner jedenfalls diejenigen Kritiker und Rezensenten, die nach überholten Maßstäben urteilen und ihr kleinlich-pedantisches Kritikasterdasein leben. In seinem ersten Entwurf hatte Wagner die Figur noch »Veit Hanslich« genannt, eine Anspielung auf seinen Intimfeind, den einflussreichen Musikrezensenten der Wiener »Neue Freie Presse«, Eduard Hanslick. Dieser Mann hatte sich abfällig über Wagners Werk geäußert, sie gar als »Katzenmusik« bezeichnet. Der Komponist wollte sich wohl auf seine Art rächen und änderte den Namen der Figur erst in einem weiteren Entwurf in Sixtus Beckmesser ab.
Beckmesser indes als »Juden« darzustellen, blieb den Antisemiten vorbehalten, die Schöpfer und Werk vor allem in der Nazizeit für ihre Zwecke missbrauchten. Dabei steht in dem Werk kein einziger Hinweis auf einen möglichen semitischen Hintergrund der Beckmesser-Figur.
Richard Wagner und Barrie Kosky polarisieren
Regisseur Barrie Kosky zieht nun die alte Nazinummer wieder aus der Rumpelkammer hervor und überzeichnet Beckmesser in seiner Bayreuther Inszenierung von »Die Meistersinger von Nürnberg« als hässlichen Juden. Dazu lässt er den Stadtschreiber mit einer Judenmaske herumtanzen und entfaltet zum Abschluss des zweiten Aufzuges eine gewaltige Judenfratze mit Davidstern aus dem »Stürmer«. Ein völlig überdimensionierter Holzhammer!
Wie kaum ein anderer Künstler hat auch Wagner schon zu Lebzeiten stark polarisiert. Der von sich selbst als »Genie« überzeugte Egomane beglich seine Schulden nicht, er lebte gern auf größerem Fuße, als ihm seine Einkünfte erlaubten, und er versuchte auf alle möglichen Arten seine Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren. Dazu zählte sicherlich sein aufgebauschter Antisemitismus, mit dem er gemeinsam mit seiner Frau Cosima versuchte, von der höheren Gesellschaft anerkannt zu werden und der in seinem unsäglichen Aufsatz »Das Judenthum in der Musik« gipfelte.
Auf der anderen Seite hatte er viele jüdische Freunde und vertraute zum Ende seines Lebens die Uraufführung seines »Parsifal« Hermann Levi an, der Sohn eines Rabbiners war. In seinem Werk, und das ist wohl das Wesentliche, lässt sich keine antisemitische Zeile finden.
Regisseur Barrie Kosky ist ebenfalls dafür bekannt, auf die Pauke zu hauen, und das tut er in seiner Bayreuther Inszenierung der »Meistersinger von Nürnberg« auch kräftig. So fährt er seine Inszenierung aus der Salonatmosphäre in den berühmten Saal 600, in dem die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse stattfanden. Jetzt steht Wagner/Sachs auf der Anklagebank, wird inszenatorisch »freigesprochen« und dirigiert zum Schluss ein aus dem Hintergrund hereinfahrendes Orchester zum furiosen Abschluss der Oper.
Wer waren eigentlich die Meistersinger?
Die sogenannten Meistersinger waren Handwerksmeister im 15. und 16. Jahrhundert, die sich zu Gilden zusammenschlossen, um in ihrer Freizeit der Dichtkunst zu frönen. In einer »Schulordnung« legten sie den Umgang miteinander und ihre Auftritte fest. Sie gliederten sich in Schüler, Schulfreund, Singer, Dichter und Meister.
Meistersinger konnte nur werden, wer gemäß des in der »Tabulatur« niedergelegten Regelwerks vor der Gildenleitung ein eigenständiges Lied fehlerfrei vortrug. Sämtliche Meistersinger arbeiteten in ihren bürgerlichen Berufen, die Arbeit innerhalb der künstlerischen Gemeinschaften erfolgte ohne Vergütung, und auch ihre Veranstaltungen waren kostenfrei zugänglich. Die Darbietungen der Meistersinger fanden meistens im Anschluss an den Sonntagsgottesdienst statt. Sie wurden als »Singschulen« bezeichnet.
Die bekanntesten Nürnberger Meistersinger waren Fritz Kettner, der Bäcker Konrad (Kunz) Nachtigall, der Nagelschmied Fritz Zorn, Sixt Beckmesser und der Leinenweber Lienhard Nunnenbeck, der wiederum Hans Sachs ausgebildet hatte. Durch die Kunst des Hans Sachs erlebte der Meistergesang eine Blütezeit, die über den Tod des dichtenden Schuhmachermeisters hinaus bis etwa 1630 anhielt. Danach setzte ein Verfall der Meisterschulen ein, die letzte Gesellschaft wurde 1839 in Ulm aufgelöst.
Als Erfinder ihrer Kunst verehrten die Meistersinger eine Reihe fahrender Sänger des 13. und 14. Jahrhunderts, die ihnen zum Vorbild dienten. Die heute bekanntesten dieser sogenannten »12 alten Meister« waren Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach, der Schöpfer des »Parzival«.
Innerhalb der Meistersinger kam es vor allem im Zuge der Reformation immer wieder zu Diskussionen über die teilweise sehr enge Auslegung des Regelwerks. Richard Wagner parodiert genau diese Auseinandersetzung, indem er in der Gestalt des Sixtus Beckmesser den Prototyp des »Merkers« schuf, der sich als Erbsenzähler und Pedant ausweist. Hans Sachs hingegen verkörpert den fortschrittlichen, von der Reformation geprägten Geist, der die Starre der Tabulatur in Frage stellt und im Interesse einer künstlerischen Entwicklung lockern möchte.
Die Bayreuther Inszenierung der »Meistersinger«
Nach dem beeindruckenden ersten Aufzug im Salon der Wagner-Villa tritt Regisseur Barri Kosky das Gaspedal durch, indem er 72 Jahre nach Kriegsende Wagner vor das Nürnberger Tribunal stellt, das Thema Antisemitismus plakatiert und den Baseballschläger schwingt. Diese Nazi-Karte darf der australische Regisseur allein aus dem Grund ziehen, weil er jüdische Wurzeln vorweisen kann. Ein anderer Regisseur würde für diese plumpe Metapher gesteinigt.
»In Bayreuth nur der genießt, der die Augen verschließt« heißt es spöttisch in Kreisen eingefleischter Wagnerianer. Diese Inszenierung darf mit offenen Augen gesehen werden. Das Bühnenbild (Rebecca Ringst) ist sorgfältig gestaltet, die Kostüme (Klaus Bruns) sind spektakulär, die Chöre unter Eberhard Friedrich sind präzise und das Orchester unter dem Dirigat von Philippe Jordan spielt sprühend und teilweise anmutig.
Die Sänger in dem Männerstück machen die diesjährigen »Meistersinger« aber zu dem eigentlichen Erlebnis. Vor allem Michael Volle als Hans Sachs überzeugt durch sein authentisches Auftreten, deutliche Aussprache und enorme Kondition in einer der schwierigsten Rollen der Operngeschichte. Seine Stimme berührt emotional und strahlt alles andere als schwülstig-fett. Wundervoll differenziert wirkt Bariton Johannes Martin Kränzle als ausgegrenzter Sixtus Beckmesser. Er versteht, die Eigenart seiner tragikomischen Figur schauspielerisch und stimmlich herauszuarbeiten. Lediglich Evchen (Anne Schwanewilms) wirkt stimmlich nicht ganz so überzeugend, wie es »der schönste Preis« erwarten lässt.
Insgesamt bietet Bayreuth anno 2017 wieder großes Kino, das in diesem Jahr sogar ohne die typischen Skandale im Vorfeld ablief. Da es bei der Premiere regnete, müssen im Nachhinein auch keine Schweißflecken bei den obligatorischen Angela-Merkel-Fotos wegretuschiert werden. Endlich kann wieder über die Oper an sich gesprochen werden.
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