„Echte“ Chinesen in Glucks Oper „Le Cinesi“ Foto: Ruprecht Frieling
Bereits in der Ouvertüre der Barockoper irritiert ein blechernes Scheppern. Ging im Eifer des Gefechts ein Becken zu Boden? Gab es einen Unfall im schmalen Orchestergraben des Potsdamer Schlosstheaters? Wurde vielleicht ungenügend geprobt? – Und schon wieder scheppert und schnarrt es im Takt der Barockmusik … das ist doch keinesfalls Glucks Oper „Le Cinesi“ pur, das ist doch die Pentatonik einer PEKINGOPER!
Bei genauerem Hinhören werden klassische chinesische Instrumenten deutlich, die das Barockensemble „L´arte del mondo“ verstärken. Erregt werden Trommeln und Cymbals geschlagen, Bambusflöte und Erhu, die chinesische Geige, erklingen. Im Publikum taucht bald darauf eine in farbenprächtigen Brokat gekleidete chinesische Sängerin auf und dehnt mit einer ungewöhnlich hohen Stimme Worte, die wie Tautropfen eine endlos scheinende Tonleiter hinunter perlen. Welch Glück, dass das Stück übertitelt ist, denn so überwinden sowohl das Publikum als auch die europäischen Sängerinnen die Sprachbarriere und verstehen, was gesungen wird. Aber gehört das alles wirklich zu Glucks Originaloper?
Christoph Willibald Gluck (1714–1787) war ein fleißiger Komponist: 50 Opern und viele weitere Musikwerke flossen aus seiner Feder. Sein 1754 uraufgeführter Einakter „El Cinesi“ fußt auf der Chinamode der damaligen Zeit: Ein Chinese dringt in ein chinesisches Frauengemach ein. Da er sich vor Einbruch der Nacht nicht ungesehen davonmachen kann, beschließen er und die drei Frauen, sich europäisches Theater vorzuspielen, denn der junge Herr ist gerade von einer Studienreise zurückgekommen. Die „Chinesinnen“ treten gegeneinander an. Jede von ihnen möchte eine „europäische“ Spielart des Musiktheaters ausprobieren. So folgen auf Tragödie, Schäferspiel (Pastorale) und Komödie als hintersinniger Sängerstreit um die Zuneigung des männlichen Eindringlings.
Glucks hochartifizielle Chinoiserie entsprach einer Richtung der europäischen Kunst, die besonders im 18. Jahrhundert populär war und dem Exotismus frönte. Das von Marco Polos Reisen geprägte Chinabild stellte gern die vermeintliche heile Welt der Riesenreiches dar, dessen Bevölkerung angeblich literarisch und philosophisch hoch gebildet war. China ziere „gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde“ formulierte der Leipziger Philosoph Leibniz.
An dieser Stelle steigen der deutsche Komponist Karsten Gundermann und der chinesische Librettist Kui Sheng in den Ring. Sie nutzen einen Kunstgriff, um die musikalischen Welten Europas und Chinas zusammen zu führen. Die beiden setzen chinesische Musiker mit landestypischen Instrumenten zum Ensemble in den Orchestergraben und stellen zwei Sänger der Pekingoper mit auf die Bühne. Diese interagieren und antworten mit Gesang, Tanz, Akrobatik und Kampfkunst auf die Darbietungen der Europäer.
Auf Lisingas (Kremena Dilcheva, Mezzosopran) Tragödienspiel antwortet der chinesische Sänger Li Yangming mit der Heldenarie „Lin Zhong rennt durch die Nacht“. Sivene (Barbara Emilia Schedel, Koloratursopran) und Silango (Krystian Adam, ein Tenor mit komödiantischer Begabung), die ineinander verliebt sind, führen ein Schäferspiel auf, worauf die chinesische Sängerin Jia Pengfei ein frommes Lied von der Himmelsgöttin anstimmt und mit einem farbigen Schal Blüten vom Himmel regnen lässt. Tangia (Milena Storti, Mezzo), die ebenfalls ein Auge auf Silango geworfen hat, macht sich schließlich in einer Komödie über die beiden Verliebten lustig, und im Ergebnis finden sich alle im Tanz wieder.
In diesem Wechselspiel von Glucks Original Opernserenade und eingebauten historischen Originalstücken aus der Welt der chinesischen Oper wird spürbar, wie unendlich unterschiedlich das Verständnis von Inhalt und Form zwischen West und Ost ist. Gleichzeitig wird erlebbar, dass die beiden Welten durchaus miteinander kommunizieren können, denn auch in der chinesischen Oper geht es um Leben und Tod, um Liebe und Leid, um Unglück und Glück, um Mythen, Sagen und Geschichten.
„Le Cinesi“ ist ein wundervoll gelungenes Experiment, eine Fusion zwischen zwei Opernkulturen, die unterschiedlicher kaum vorstellbar sind. Es grenzt an ein Wunder, dass dieses Wagnis von einer relativ kleinen Mannschaft anlässlich der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci eingegangen wurde. Meisterhaft ist, dass die beiden Teams nur eine Woche für gemeinsame Proben hatten, wenn man die insgesamt stimmige Choreographie wie die Akribie jeder Bewegung, jeder Geste, jeder Pantomime aller Akteure erlebt. Diese Inszenierung bleibt im Gedächtnis haften, weil ihr jede Beliebigkeit ebenso fehlt wie der abgedrehte Anspruch „moderner“ Opernregisseure.
Mit diesem „Glucksgriff“ ist den Potsdamer Festspielen ein Augen- und Ohrenschmaus gelungen, auf den das hingerissene Publikum mit ausdauernden Beifallsstürmen antwortete.