Ein leichtfüßiger Austausch über schwergewichtige Sätze – und umgekehrt. So lautet das Grundkonzept vom 1-Satz-Literaturclub, der Anfang 2021 auf Clubhouse ins Leben gerufen wurde und inzwischen das Jubiläum seiner 100. Durchführung feiern konnte. Initiatorin des erfolgreichen Gesprächskreises ist die Schweizer Germanistin, Musikwissenschaftlerin und Kunstgeschichtlerin Judith Niederberger, die unter ihrem Künstlernamen Lakritza als Kommunikationsagentin und Event-Managerin tätig ist.
So funktioniert der 1-Satz-Literaturclub
Gastbeitrag von Judith Niederberger
Was Sie vielleicht nie wissen wollten – aber im 1-Satz-Literaturclub erfahren: Das senkrechte Grübchen im Gesicht, zwischen Nase und Oberlippe, nennt sich «Philtrum». Seebrasse auf Türkisch heisst «çipura». Und das vom Aussterben bedrohte Wort «Schabernack» geht auf einen grossen Hut zurück, dessen rauher Stoff im Nacken «schabt».
Insofern kann man dem 1-Satz-Literaturclub gar eine Lern- und Bildungsqualität attestieren. Doch darum geht es nicht in erster Linie. Meine ursprüngliche Idee war, mit zufällig zusammentreffenden Leuten ein zufälliges Inspirationshäppchen zu diskutieren und ein wenig Spass zu haben. Was Ende Januar 2021 aus einer leicht spleenigen Ad-hoc-Aktion heraus begann, hat sich inzwischen für mich, meine treue Co-Moderatorin Riccarda Mecklenburg und viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem fixen Morgenritual entwickelt, das fit für den Tag macht. Kürzlich durften wir die 100. Durchführung feiern.
Wie funktioniert der 1-Satz-Literaturclub?
Wir treffen uns regelmässig für eine kurze halbe Stunde auf Clubhouse, der noch relativ jungen audio-basierten Social-Media-Plattform – somit also virtuell, ortsunabhängig, kostenlos, flexibel und ohne jegliche Verpflichtung für eine regelmässige Teilnahme. Unter der Woche starten wir um 8:30 Uhr, samstags um 9:30 Uhr und sonntags um 10:00 Uhr.
Anders als bei anderen Literaturclubs müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei uns keine Leseratten sein, dürfen es aber natürlich. Wir müssen uns auch nicht vorbereiten, keine dicken Bücher durchgeackert haben – sondern einfach Spass an der Freud haben, am literarischen Wort und am kreativen und wertschätzenden Austausch untereinander.
Zum Einstieg fragen wir in die Runde, wer ein Buch bei sich oder in greifbarer Nähe habe und wer Glücksfee spielen möchte. Die Glücksfee (in der männlichen Version: unser Glücksprinz) bestimmt eine Seitenzahl. Das Buch wird auf dieser Seite aufgeschlagen und der erste Satz, der auf dieser Seite neu beginnt, wird vorgelesen. Er bestimmt das Thema für unsere anschliessende 30-minütige Diskussion. Um diesen Satz herum lassen wir gemeinsam unsere Gedanken kreisen.
Ein einziger Satz, zufällig und kontextlos: Kann das überhaupt die Basis für eine sinnstiftende Diskussion bieten?
Wenn ich in meinem Bekanntenkreis über mein neues Engagement als Initiantin und Moderatorin des 1-Satz-Literaturclubs (#1SLC) spreche, löse ich bisweilen Irritation und Unverständnis aus. Speziell die sehr Belesenen unter meinen Freunden können nicht nachvollziehen, dass ich nicht ein Buch als Ganzes besprechen möchte oder weshalb ich nicht wenigstens einen bewusst ausgewählten, besonders wertvollen Satz aus einem Werk ins Zentrum stelle.
Tatsächlich ist der Approach hier ein ganz anderer. Es geht nicht um das Wesen des Buches an sich – zumindest nicht zwingend. Im Verlauf des Gesprächs kann durchaus das ganze Buch als solches in den Mittelpunkt rücken, muss aber nicht. Vielmehr geht es darum, unseren eigenen Geist anzustacheln und zu kreativen Gedanken anzustossen. Ähnlich wie beim Brainstorming-Konzept gibt es keine falschen Aussagen in unserer Runde, dafür aber Geistesblitze bei den einen, die neue Inspirationen bei anderen auslösen. Gemeinsam tauchen wir in verschiedene Gedanken-, Argumentations- und Wesenswelten ein, schärfen unsere Wahrnehmung, gewinnen neue Erkenntnisse – und erleben vor allem eine wertvolle und äusserst unterhaltsame Zeit.
Schwergewichtige Worte im 1-Satz-Literaturclub
Je nach Zufallssatz kann unsere Diskussion durchaus ernst sein.
Ingeborg Bachmanns Satz haben wir als Warnung und Mahnung verstanden – ihre «Goldbarren menschlichen Geistes» könnten in der heutigen Zeit auch «alternative Fakten» genannt werden:
Hanna Arendts Satz hat uns einen wertvollen Input gegeben, der uns das Auseinanderdriften von Volk und Staat bezüglich aktueller politischer Unruhen besser fassen lässt:
Die von der Klosterfrau Gaudentia aufgezeigte politische Geldverprasserei in Papua-Neuguinea für eine perverse Show of Force hat uns bis ins Mark erschüttert, uns aber auch klar gemacht, dass ebenfalls mitschuldig ist, wer sich auf diese Weise beeindrucken lässt – und dazu gehören wir wohl auch selber:
Leichtfüssige Sätze im 1-Satz-Literaturclub
Andere Sätze holen uns auf einem samtweichen roten Teppich ab und laden uns zu einer Gedankenschwelgerei ein:
Und gewisse Sätze provozieren uns:
Gibt es «Diskussionsunwürdige» Sätze im 1-Satz-Literaturclub?
Wieder andere Sätze scheinen auf den ersten Blick vielleicht keiner Diskussion würdig zu sein – und bescheren uns daher oft die reichhaltigsten und amüsantesten 30 Minuten, da wir den offenen Rahmen mit eigenen Gedanken zu füllen wissen.
Zum Beispiel dieser Satz mit der rein sachlichen Größenangabe eines Raumes:
Oder wir versuchen, die uns unbekannten Eindrücke einer weiblichen Person zu fassen:
Im Nachhinein hatte sich bei obigem Satz herausgestellt, dass es sich um die Weindegustation einer blinden Frau handelt. – Ja, da bekamen wir dann einen kleinen geistigen Klaps verpasst …
Und unser Lieblingssatz bisher:
Wir hatten herzlich viel gelacht in dieser halben Stunde.
Der 1-Satz-Literaturclub hallt in den Tag hinein
Bald nach den ersten paar Durchführungen des 1-Satz-Literaturclubs hatte sich uns ein Salondichter angeschlossen: Tom Hohlfeld. Zu jedem Satz und jeder Diskussion schenkt er uns bereits während oder nach der halben Stunde ein Gedicht.
Meinerseits fange ich jede 1SLC-Durchführung mit einer grafischen Umsetzung ein und fasse den Inhalt der Diskussion in einem kurzen Text zusammen.
Alles, was rund um den 1SLC entsteht, wird auf der Webseite www.1satzliteraturclub.com publiziert. Einen weiterführenden und sehr anregenden und aktiven Austausch pflegen wir zudem in der Telegram-Gruppe https://t.me/literaturclub.
1-Satz-Literaturclub: Mitmachen erwünscht
Wer immer sich uns anschließen möchte – sei es einmal, mehrmals, unregelmäßig oder konsequent –, ist uns herzlich willkommen.
https://www.joinclubhouse.com/@lakritza.ch
https://www.joinclubhouse.com/club/Literaturclub
Was die Skeptikerinnen und Zauderer in meinem persönlichen Umfeld anbelangt: Diejenigen von ihnen, die den Schritt zu uns in den Clubhouse-Raum gewagt haben, sind vom ersten Moment an begeisterte Fans unserer Gruppe geworden.
Die andern kommen später bestimmt auch noch dazu. –
Oder aber sind selber schuld. 😉
Hier geht es zur vollständigen Sammlung aller besprochenen Zufallssätze: https://www.1satzliteraturclub.com/blog
- Unsere Gastautorin Judith Niederberger, auch unter dem Pseudonym Lakritza unterwegs, ist Inhaberin der Kreativagentur Lakritza GmbH in Aarau, Schweiz. Nach dem Studium der Germanistik, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte war sie als Projekt- und Kommunikationsleiterin in diversen Branchen tätig: Finanzindustrie, IT, Textil- und Bekleidung sowie Kultur. Seit 2012 bietet sie mit ihrer Kommunikations-, PR- und Eventmanagement-Agentur diverse Dienstleistungen sowohl strategischer als auch konzipierender und realisierender Art an, wie z.B. Inhalt und Text, graphische Gestaltung, Web-Kommunikation, Moderation und Keynote Performances. Weitere Infos: www.lakritza.ch
Vielen Dank für Interview, Gastbeitrag und Blogeintrag.
Das Konzept des „1-Satz-Literaturclubs“ ist in seiner bestechenden Einfachheit mit gleichzeitiger Tiefe und spontaner Beteiligung vieler Menschen ein Wunderwerk der Kommunikation und hätte glatt einen Literatur-Nobelpreis verdient. Gratulation zu dieser „Erfindung“ und in Vorfreude auf viele weitere beglückende 1SLC-Erlebnisse, wenn wieder „1-Sätzisch“ gesprochen wird.