Verlernen wir das Lesen?
Ein literarischer Weckruf zwischen Buchrücken, Farbschnitt und Fantasie
Von Prinz Rupi
Es klingt paradox: In einer Zeit, in der noch nie so viel geschrieben wurde – auf Smartphones, in Feeds, Chats und Kommentaren – verlieren wir ausgerechnet das Lesen. Also: das eigentliche Lesen. Das, was man tut, wenn man sich einem Buch überlässt. Seite um Seite. Gedanke um Gedanke. Satz um Satz.
Ist das nur ein alter Kulturpessimismus im neuen Gewand? Oder ist da tatsächlich etwas im Gange, das uns – uns Leser, uns Autoren, uns Verleger, uns Büchermenschen – angeht?
Vom gedruckten Wort zum flüchtigen Blick
Wer sich in Universitäten umhört, erlebt eine stille, aber tiefgreifende Krise. Immer weniger Studierende lesen ganze Bücher. Selbst kurze theoretische Texte bringen viele ins Schwitzen – oder werden gleich ChatGPT überlassen. Für viele ist Lesen zu einer anstrengenden, ja überfordernden Tätigkeit geworden. Und in der Freizeit? Die Zahlen sind ernüchternd: Nur noch 17 % der Studierenden lesen täglich ein Buch. Vor zwanzig Jahren waren es über 40 %.
Und das betrifft nicht nur die Masse. Auch angehende Lehrer, Germanistik-Studierende, Buchhandelskundschaft – das Buch als Lebensform gerät ins Rutschen. Gedruckte Tiefe wird ersetzt durch gesprochene Schnipsel, KI-Zusammenfassungen, Memes mit Textquote.
Hoffnungsschimmer mit Farbschnitt?
Und gerade, als man die Lesekultur schon zum Bildungsdenkmal erklären will, blüht sie auf – an einem der unwahrscheinlichsten Orte überhaupt: auf TikTok. Genauer: unter dem Hashtag #BookTok. Dort zelebrieren Millionen junger Menschen ihre Lektüren. Sie filmen ihre Bücherregale, diskutieren ihre Lieblingsfiguren, weinen öffentlich über Romanenden. Das Buch wird zum Ereignis – und zum ästhetischen Objekt.
25 Millionen verkaufte Bücher allein im letzten Jahr in Deutschland, ausgelöst durch BookTok-Empfehlungen. Lektürestapel werden stolz präsentiert, Cover geliebt, und die prächtig verzierten Farbschnitte – also bunt bedruckte Buchkanten – feiern eine stille Renaissance. Man stellt Bücher nicht mehr mit dem Rücken nach außen ins Regal, sondern mit dem Bauch. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen.
Wer in diesem Frühjahr über die Leipziger Buchmesse wanderte oder im Herbst des vergangenen Jahres die BuchBerlin besuchte, begegnete langen Schlangen junger Leserinnen – geduldig wartend auf eine limitierte Sonderausgabe ihres Lieblingsbuchs. Nicht als Requisite. Sondern aus echter Leidenschaft.
Viel Romantik, wenig Reflexion?
Natürlich sind die literarischen Inhalte dieser neuen Buchbegeisterung nicht unumstritten. Viele der BookTok-Bestseller sind seicht, vorhersehbar, manchmal sogar fragwürdig. Drachen, Vampire, toxische Romanzen – kein Thomas Mann in Sicht. Aber: Wer jemals geliebt hat, weiß, dass der Weg zum guten Buch nicht selten durch Kitsch führt. Und: Wer sich von einem dicken Fantasyroman zum Lesen verführen lässt, findet vielleicht später zu den stilleren, klügeren Tönen.
Was heißt das für Büchermenschen?
Für Menschen, die Sprache feiern, Illustrationen betrachten, Geschichten nachspüren – stellt sich eine doppelte Frage:
• Wie bewahren wir das Lesen als Tiefenerfahrung?
• Und wie öffnen wir zugleich neue Türen dorthin?
Autoren sollten weiterhin mutig erzählen – in Sprache, die fordert und verführt.
Verlage müssen Schönheit und Inhalt verbinden, mutige Programme schaffen, ohne die TikTok-Welt zu ignorieren. Buchhandlungen können Orte der Begegnung bleiben – analog, sinnlich, beratend.
Und wir selbst? – Wir könnten vielleicht wieder einmal ein Buch zur Hand nehmen, das nicht durch den Algorithmus zu uns kam. Vielleicht ein vergriffenes. Vielleicht eines ohne Farbschnitt. Oder eben eines mit, aber dann auch mit Gedanken.
Das Lesen lebt. Aber es braucht uns.
Wir verlernen das Lesen nicht, weil wir es nicht mehr könnten. Wir verlernen es, wenn wir aufhören, es zu tun. Wenn wir aufhören, es zu fordern – von uns selbst, von der Welt, von der Kultur.
Die Hoffnung liegt zwischen zwei Buchdeckeln. Und manchmal glitzert sie sogar am Rand.
© Prinz Rupi 2025
Der Weg zum guten Buch führt oft durch den Kitsch. Ja, gut beobachtet