Auf der Bühne ist ein altertümlicher Gerichtssaal mit geheimnisvollen Zu- und Abgängen zu sehen. Auf dessen rechter Seite hat Bühnenbildnerin Anna Viebrock eine Wartebank mit einem stabilen Aschenbecher vor einem Blumenfenster mit Orchideen und Kakteen aufgestellt. Hier kann auf das Urteil gewartet werden, ob im Gericht oder im Leben.
Auf der linken Bühnenseite ist ein Glaskasten zu erkennen, in dem eine metallene Gehhilfe steht. Das Stück hat offenbar längst begonnen, denn Dirigent Esa-Pekka Salonen steht bereits am Pult und schaut auf die Wiener Philharmoniker, die im Dunklen auf ihren Einsatz warten. Doch bevor ein Ton erklingt, betritt ein gesetzter Herr im braunen Anzug die Bühne und inspiziert den lichtlosen Orchestergraben. Er schaut interessiert hinab, bewegt sich kaum und schweigt abwartend. Es vergehen drei, vier, fünf oder mehr stumme Minuten, das Publikum kichert verhalten. Der Darsteller tritt ab. Der Maestro hebt noch immer nicht den Taktstock.
Da betreten zwei Frauen den engen Glaskasten zur Linken und entzünden Zigaretten. Die eine Raucherin ist jung und attraktiv, die andere scheint uralt und hängt welk an der Gehhilfe, während sie gierig eine Zigarette nach der anderen pafft. Sie unterhalten sich über das Leben. Ach Gott, das Leben ist so kurz, meint eine der Kettenraucherinnen, und es entspinnt sich ein Dialog über die Endlichkeit des irdischen Seins. Wäre es nicht eine tolle Idee, hundert Jahre länger leben zu können, oder dieses Privileg wenigstens einigen tausend Menschen einzuräumen, sinniert die andere Nikotinabhängige. Nur wer soll darüber entscheiden, welche Menschen diese Extraportion Leben bekommen sollen: eine Akademie vielleicht oder gar eine Kommission?
Es ist ein stummer Dialog, der sich in dem Raucherzimmer entspinnt, denn die Junge und die Alte, die über die Vergänglichkeit sprechen, während sie selbst ihr irdisches Ende rauchend herbeibeschwören, sind nicht zu hören. Ihre Rede wird als Übertitel auf eine Leinwand projiziert, ein insgesamt ungewöhnlicher Einstieg in eine Oper. Die Greisin spricht auch über die Oper selbst: Die meisten Stücke seien doch Zeitverschwendung, man müsse sich Tage zuvor darauf intensiv vorbereiten und alles lesen, um halbwegs dem Lauf der Handlung folgen zu können, und in der Aufführung verstehe man letztlich doch nichts. Spätestens an diese Stelle lacht das Publikum befreit, denn Die Sache Makropulos ist eine Oper, deren verwickelte und verdrehte Handlung selbst von etablierten Opernführern nur unzureichend erklärt wird und zudem in tschechischer Sprache gesungen wird.
Nach diesem selbstironischen Intro hebt der Dirigent den Taktstock, das Orchester setzt ein, die eigentliche Oper beginnt. Regisseur Christoph Marthaler ersann diese Einführung zu seiner Inszenierung und fabulierte auch den in keinem Libretto stehenden Vorspann. Er schafft es, in den folgenden knapp zwei Stunden, die Handlung samt der verwirrend vielen Figuren so wundervoll geradlinig und klar zu erzählen, dass sich mancher Zuhörer am Ende fragt, warum er diesem pausenlosen Dreiakter bislang standhaft fernblieb.
Es geht um die Unsterblichkeit, und die Sache Makropulos ist in Wahrheit das Rezept eines Geheimelixiers, das 300 Jahre Jugend schenkt. Kaiser Rudolf II. gibt kurz vor seinem Tod seinem Leibarzt Hieronymos Makropulos ein Getränk in Auftrag, das sein Leben um 300 Jahre verlängern soll. Der Alchimist komponiert ein derartiges Elixier, doch der Kaiser traut ihm nicht. Darauf erprobt Makropulos die Droge an seiner Tochter Elina, und siehe da: Der Zauber wirkt.
Die Handlung der Oper setzt nun eben diese 300 Jahre später ein. Elina Makropulos, entsprechend alt aber eben äußerlich blutjung und eine junge und erfolgreiche Opernsängerin, versucht, an die Rezeptur zu kommen. Ihre Uhr läuft ab, sie muss erneut das Zaubermittel brauen. Sie ist eine wunderschöne Diva, die Männerherzen bricht und von ihrem Publikum abgöttisch verehrt wird. Dabei ahnt niemand von ihrem Geheimnis, zumal sie sich für jede Generation eine neue Identität zugelegt hat, die jeweils wieder auf Musik, Gesang und Tanz gründet. Lediglich die Initialen der von ihr gewählten Namen verraten eine Gemeinsamkeit: E. M.
Als hinreißend schöne Opernsängerin Emilia Marty tritt sie nun in dem Gerichtssaal auf, wo ein seit hundert Jahren schwelender Erbschaftsstreit zwischen zwei Familien verhandelt wird. Zur Verwunderung aller kann sie entscheidende Details zu dem Verfahren beisteuern. Sie kann beispielsweise den Aufenthaltsort uralter Schriftstücke und Testamente angeben, die dann tatsächlich gefunden werden und prozessentscheidend sind. In dem Zusammenhang gelangt E. M. auch an eine Handschrift in altgriechischer Sprache, die sie besonders interessiert.
In einem wilden Hin und Her um Erbschaften und Beziehungsgeschichten gibt die geheimnisvolle Frau schließlich ihre Identität preis und erklärt, keinen weiteren Gebrauch von der Lebensverlängerungsformel machen zu wollen. Sie übergibt das Rezept ewiger Jugend an eine junge, aufstrebende Sängerin, die jedoch ohne Zögern die Handschrift verbrennt. Während E. M. in einer dramatischen Schlussarie zu Boden singt, betritt ein bulliger Oberarzt in weißem Kittel das Raucherzimmer. Er hebt die uralte Kettenraucherin, die welk am Boden liegt, wie eine Feder auf und trägt sie davon. Damit wird die wundervolle Allegorie erklärt, die Regisseur Marthaler während des Dreiakters parallel in seinem Glaskasten abspielt: Ein Gleichnis von der Endlichkeit des Seins, von der Selbstvernichtung und vom schnellen Vergehen der Jugend.
Christoph Marthaler, der bereits 1998 mit Katja Kabanowa von Leo Janáček das Salzburger Festspielpublikum von den Stühlen riss, hat auch 2011 mit Janáčeks Die Sache Makropulosden Vogel abgeschossen und die mir Abstand stimmigste Arbeit der diesjährigen Sommerspiele vorgelegt. Während die Inszenierung von Frau ohne Schatten (Richard Strauss) unter dem Dirigat von Christian Thielemann zwar zu einem musikalischen Leckerbissen geriet, ließ die inszenatorische Arbeit Christof Loys die viereinhalbstündige Zauberoper zur Beliebigkeit verkommen. So ist es Marthaler, der das superlativistische Image der Festspiele anno 2011 in den Himmel hebt.
Es gelingt ihm mit einer höchst präzisen Personenführung und einer bis ins kleinste Detail abgestimmten Regiearbeit, die das Leben als immer wiederkehrenden, lachhaften Kreislauf schildert. Wie bereits bei Katja Kabanowa singt und spielt Angela Denoke die Titelpartie mit vielschichtiger Stimmcharakteristik zwischen eiskalter Schärfe und überwältigender Emotion. Ihr arbeiten die verschiedenen männlichen Stimmen zu, die sich szenisch und musikalisch deutlich differenzieren. Schwierig sind nur die tschechische Sprache und die daraus resultierende Notwendigkeit, die Übertitelung ständig mitlesen zu müssen. So entgeht dem Betrachter das ein oder andere Detail auf der Bühne, und er würde am liebsten diese prachtvolle Inszenierung gleich ein zweites Mal sehen, um jede Feinheit und Anspielung noch besser einordnen zu können.
Eine für Marthalers Arbeitsstil typische Geschichte sei abschließend erzählt. Es geht darin um die Reinigungsfrau Anita, die in der Inszenierung unermüdlich ihr Werk auf der Bühne vollbringt: Während seiner Arbeit an Die Sache Makropulos war sie dem Regisseur aufgefallen, wie sie beflissen ihrem Dienst nachging im Probenraum des Messezentrums. Irgendwann bat er sie auf die Bühne, und nun spielt sie mit. Als Reinigungsfrau. Mit einer Souveränität und einer Selbstverständlichkeit, wie sie kein Schauspieler und kein Statist an den Tag legen könnten
Opern sind schon übersetzt worden (und aus O donna mobile wurde Ach wie verführerisch) – wäre eine Übersetzung des Librettos nicht eine Möglichkeit, dieser Oper aus dem sprachgebundenen Schattendasein herauszuhelfen?
Ich weiß um die Schwierigkeiten der Übersetzung an sich, und erst recht wenn Musik und Sprache zusammenkommen. Der Messias ist ein deutliches Beispiel. Aber dennoch…