Stummfilm-Erzähler Ralph Turnheim hat eine einzigartige Leidenschaft für Film. Sollte er eines fernen Tages tot aufgefunden werden, wird der Leinwand-Lyriker wahrscheinlich eine historische Filmrolle umklammern – vielleicht sogar die Kopie eines »Frankenstein«-Films, den der Filmfreak ersteigert hat.
Vom Schauspieler zum Leinwand-Lyriker
Ralph Turnheim entdeckte nach einer Ausbildung an einer Schauspielschule in Wien seine Liebe zum Stummfilm. Seine frühe Karriere am Staatstheater Wiesbaden umfasste anstrengende Auftritte im Kinder- und Jugendensemble, wo er sich in der herausfordernden Welt des Theaters bewies.
Neben seiner Bühnenarbeit widmete er sich seiner wahren Leidenschaft: dem klassischen Film. Mit seiner Schauspielgage investierte er in einen 16-mm-Projektor und alte Stummfilme, und besuchte regelmäßig das Filmmuseum in Frankfurt. Ihn faszinierte der heimelige Gang durch die Entwicklung der Bildillusion bis zum bewegten Bild.
Als ihm das Schicksal eines Tages die Kopie eines Pink-Panther-Cartoons in Originalsprache in die Hände spielt, stellt er beim Abspielen fest, dass es sich um einen Stummfilm handelt. Der Knittelvers »Heute ist nicht alle Tage, ich komm’ wieder, keine Frage« entpuppt sich als Erfindung der deutschen Dialogregie. Turnheim entwickelt die Idee, eigene Reime zu den Filmen zu machen und beides live vorzutragen. Dann überträgt er das Konzept auf weitere Stummfilme und wird Stummfilmerzähler.
Exaktes Timing ist entscheidend
Seit 2005 ist Turnheim als Stummfilmerzähler tätig, wobei er seine Texte sorgfältig an die Bilder anpasst. Der Verseschmied sprudelt die Texte mit Highspeed heraus, diese müssen aber schnittgenau passen. Seine Gedichte unterwerfen sich dem Schnitt, er bleibt stets exakt am Bild. In seinen Live-Präsentationen muss Turnheim präzise sein; ein falsch getimter Text kann die Pointe ruinieren. Die Herausforderung besteht darin, den Film genau zu verfolgen und die Stimmen unterschiedlicher Charaktere zu differenzieren. Besonders der schnelle Wechsel zwischen diesen Stimmen bereitet ihm Vergnügen.
Die Arbeit ist aufwändig. Für ein Programm kalkuliert er drei Monate, für eine Filmminute einen Arbeitstag. Er schaut sich den Film sehr genau an, notiert einen Time Code für die Szenen und versucht es genau zu treffen.
Kommt er einen Moment zu früh oder zu spät mit seinem Text, versagt die Pointe. Wenn er sich bei der Live-Präsentation verliest oder kurz nachdenkt, läuft ihm der Film davon. Das ist anders als auf der Bühne, wo die Schauspieler aufeinander warten. Je mehr Figuren es im Film gibt, desto kniffliger wird es, sie auch voneinander absetzen. Hat er aber alle Stimmen gefunden, macht ihm der schnelle Wechsel besonders Spaß.
Programmvielfalt von »Zorro« bis »Tarzan«
Mittlerweile hat Turnheim achtzehn verschiedene Programme, von »Zorro« bis »Tarzan«, und tourt damit durch die deutschsprachige Kinowelt. Sein persönlicher Liebling ist »Frankenstein«. Diese Verfilmung des berühmten Romans von Mary Shelley aus den Edison-Studios galt jahrzehntelang als verschollen. Durch Zufall konnte Turnheim ein 16-mm-Negativ, das direkt von diesem Film gezogen wurde, ersteigern.
Er interpretiert und präsentiert den Streifen auf drei verschiedene Weisen: als psychologisches Drama, als freche Komödie und als Filmmusical, für das Stummfilmkomponist Gerhard Gruber eingängige Ohrwürmer erschaffen hat. Durch die Macht der Worte – und des Gesangs – entsteht jedes Mal ein vollkommen neues Werk, das die künstlerische Bandbreite des Stummfilmerzählers beweist.
Turnheim spricht und lebt rasend schnell. Er tourt ohne Pause, und wer ihn erleben möchte, abonniert seinen Newsletter, um zu erfahren, wann und wo er gastiert.
Sein Talent und seine Leidenschaft für Stummfilme machen Ralph Turnheim zu einer einzigartigen Figur in der Welt des Kinos. Sein Leben und Werk sind ein faszinierendes Beispiel dafür, wie zeitgenössische Künstler alte Kunstformen neu interpretieren und ihnen neues Leben einhauchen können. 2023 wurde er mit dem Deutschen Stummfilmpreis ausgezeichnet.