Einige Jahre vor seiner legendären »Zauberflöte« schrieb Wolfgang Amadeus Mozart nach dem Libretto von Emanuel Schikaneder die Märchenoper »Der Wohltätige Derwisch«. Darin verlässt ein türkischer Prinz seine Heimat, um sein Glück im Königreich Basora zu suchen. Ein Weiser schenkt ihm für diese Reise ein Schatzkästchen mit magischem Inhalt. Es gibt im Verlauf der Geschichte ein wildes Hin und Her um die Zauberdinge, die der Kasten verbirgt. Natürlich geht es in erster Linie um die Liebe, um Beziehungschaos, um fiese und um freundliche Frauen sowie gute und schlechte Ratgeber. Im Geist der damaligen Zeit entstand eine bunte »Türkenoper« mit Derwischen, Dschinns und Haremsdamen. Berlins »Neuköllner Oper« nahm sich nun dieses erst vor wenigen Jahren Mozart zugeordneten Stoffes an, um ihn in die heutige Zeit zu transponieren.
»Türkisch für Liebhaber« nennt die Neuköllner Oper ihr Mozart-Singspiel, mit dem sie Musikgeschichte schreiben möchte. Es soll ein neues Genre auf der Bühne installiert werden, nämlich das zeitgenössische Singspiel aus dem barocken Geist der Türkenoper des 18. Jahrhunderts heraus in unsere Zeit zu übertragen. »Der wohltätige Derwisch« diente der 23jährigen Komponistin Sinem Altan als Grundlage für ihre Arbeit. Dazu schrieb die in Schwäbisch Gmünd geborene Kolumnistin Dilek Güngör ein Libretto um einen schönen Jungtürken, den es nach Berlin verschlägt. Søren Schuhmacher, Oberspielleiter an der Deutschen Oper Berlin, führte Regie und wagte sich damit erstmals aus seinem verstaubten Musiktempel an die Neuköllner Kreativschmiede, die lange Jahre als »Wunder von Neukölln« galt.
Im Stück kommt Jungarchitekt Ercan (Kerem Can) aus Ankara nach Berlin, um ein Praktikum zu machen. Der gut aussehende, modern eingestellte Mann wird bei Onkel Mahmut (Daniel Bonilla-Torres) und Tante Saliha (Tersia Potgieter) untergebracht. Er erlebt die beiden wie stehen gebliebene Uhren, die zwar seit Jahrzehnten in »Klein-Istanbul« (Berlin-Neukölln) leben, die deutsche Sprache indes nur mangelhaft beherrschen und sich mit Zeitung, Fernsehen, Kiez und Verwandten tief in eine feudalistisch anmutende türkische Vergangenheit hinein träumen.
Diese beiden Traditionalisten wollen den jungen Mann mit Mine (Aline Vogt) verkuppeln, die sie als Deutschlehrerin für ihn engagieren, obwohl Ercan Bilderbuchdeutsch spricht. In der Vorstellung der beiden Alten beginnt für die türkische Seele das Glück auf Erden mit einem deutschen Pass. Mine genießt bereits das vermeintliche Privileg der deutschen Staatsbürgerschaft, was in den Augen von Onkel und Tante einen Hochzeitsanreiz darstellt. Sie ist eine selbst bewusste Deutsch-Türkin, die kein Wort Türkisch spricht und lediglich einmal das Heimatland ihrer Eltern bereiste, um dort einen nachhaltigen Kulturschock zu erleben.
Mines rattenscharfe Freundin Sinem (Nina Reithmeier), die ihre Freizeit zwischen Boutique und Cocktailbar verlebt, stürzt sich auf den gut aussehenden Anatolen und versucht, ihn abzuschleppen. Er wiederum landet im Vollrausch erst einmal in Mines Bett. Gleichzeitig versucht Ercans blonde Arbeitskollegin Kati (Nina Arens), den Türken für sich zu gewinnen. Die anpassungsfähige deutsche Businessmieze verwandelt sich dazu immer mehr in eine »Orientalin« und tritt zum Schluss sogar in einem Bauchtanzkostüm auf, um ihm zu gefallen.
Der inszenatorische Ansatz und die darin aufgeworfene Frage, was denn eigentlich die in Deutschland lebenden Türken ausmacht, sind ehrenwert. Bleibt der Immigrant vom Bosporus so lange Türke, wie er türkisch träumt oder Fan der türkischen Nationalelf ist? Gibt die Staatsbürgerschaft oder gar die Religionszugehörigkeit den Ausschlag für ein »türkisch gefülltes« Deutschsein? Oder, bezogen auf die Oper: ist eine »Türkenoper« dann authentisch, wenn eine »echte« türkische Sängerin (Begüm Tüzemen) in die Handlung eingebaut wird und vollkommen losgelöst Weisen ihrer Heimat intoniert? Reicht es, in das wie immer erstklassige Orchester unter Hans-Peter Kirchberg die Kanun, eine orientalische Zither, und die türkische Laute Bağlama einzubinden, um Orient und Okzident zu verschmelzen?
Anachronistisch und zugleich aktuell wirkt, wenn die Damen Mozart-Arien aus der Originalpartitur intonieren wie »Die Männer zu fesseln ist unser Gewinn, sie dann zu vernichten, ist weiblicher Sinn« und »Dass Männer unsere Sklaven sind, zeigt unsere Herrschaft an«. Ansonsten lässt »Türkisch für Liebhaber« kein gängiges Vorurteil über das Leben im Patchwork aus. Trotz des damit möglichen Spannungsbogens läuft die Geschichte flach und schleppend, sie wirkt bisweilen sogar langatmig provinziell.
Die Produktion über eine Mittelschicht mit »Migrationshintergrund« manifestiert alt bekannte, gängige Klischees. Was in Amberg, Buxtehude oder Castrop-Rauxel vielleicht noch Diskussionen auslöst, bietet Berlins Multikultipublikum nichts Neues und schon gar keine Antwort auf eine mögliche Entwicklung. Selbst die ARD-Soap »Türkisch für Anfänger« ist da wesentlich mutiger und geht sehr viel weiter.
Im Ergebnis wiederholt sich auch heutzutage die Problematik der Mozartzeit: der Orient ist und bleibt das unbekannte Wesen, das der Okzident fasziniert bestaunt und überlegen belächelt. Auch im Zeitalter der Globalisierung bleiben sich die Kulturen fremd und nehmen lediglich das voneinander an, was ihnen jeweils nützlich, werthaltig und interessant erscheint. Die »Türkenoper« bleibt sofern auch heute das, was sie schon zu Mozarts Zeiten war: eine musikalische wie inhaltliche Wundertüte.
Schade, dass diese vom Ansatz her wohlmeinenden Möglichkeiten zu fruchtbaren Kultur-Diskursen dann doch verschenkt werden. Man kann eben in der Kunst und mit der Kunst nicht erzwingen, was nach und nach erst kreativ wachsen bzw. sich entwickeln muss. Plakativem und Klischees begegnen wir leider schon zu oft.
Eine Wundertüte kann ja immer ein freudiges Lacher hervorzaubern, oder nur ein Schulterzucken…
Schon ein netter Denkansatz das ganze, aber wie du schon sagst, anachronistisch und zugleich aktuell. Für Gesprächsstoff ist also garantiert gesorgt!
Ich bin mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus der Premiere gegangen
ich weiß nicht was der autor (kritiker darf ihn ja wohl nicht nennen) dieser kritik gesehen hat…was er unter anachronistisch versteht….wäre das stimmig was er hier schreibt..so wäre das moderne musik-und regietheater in seiner form und künsterlischen ausdrucksform nicht möglich..gut ist das es so wie es existiert möglich ist….