Seit wann gibt es eigentlich E-Books? Dieser Frage geht der Journalist und Autor Ansgar Warner nach, der genau weiß, dass Elektrobücher nicht erst mit dem Kindle das Licht der Buchwelt erblickten.
Der Traum vom E-Book
Warner verortet den Urschleim des E-Books im Jahre 1945, als der Ingenieur Vannevar Bush die universale Wissensmaschine »Memex« entwarf. Fünfzehn Jahre später träumten Avantgardisten wie Ted Nelson bereits davon, eine universale Bibliothek digital vorrätig zu halten, ab 1967 sprach der Vorreiter vom »electronic book«. Längst waren es nicht mehr nur Autoren und Bücherwürmer, die von einer universalen Bibliothek träumten. Nun kamen Ingenieure, Techniker und Programmierer dazu, die Visionen in Hard- und Software umsetzen.
Der erste elektronische Text
Pünktlich zum 4. Juli 1971 tippte Michael Hart die amerikanische Unabhängigkeitserklärung in einen Xerox Sigma-V-Großrechner und begründete das »Project Gutenberg«, das rechtefreie Texte aus den Bibliotheken der Welt für die Allgemeinheit zugänglich macht. Dieses Datum wird von vielen als die eigentliche Geburtstunde des E-Books betrachtet.
Von nun an ging es mit immer schnelleren Schritten voran, und wer ein paar Jahrzehnte in der Szene aktiv ist, der erinnert sich noch an »Teletext« (später »Videotext«) und BTX, die den Fernseher als Lesegerät nutzen.
Bücherberge auf Silberlingen
Während Unternehmer wie Steve Jobs die Ära des Personal Computers einläuteten, setzte Bill Gates ab 1985 auf das Speichermedium CD-Rom, auf dem anfangs Lexika vertrieben wurden. Auf den Silberscheiben ließen sich so viele Daten speichern wie zuvor auf fast zweitausend Disketten. Jobs »Newton« mit eigenem E-Book-Format und Adobe, die 1993 das »Portable Document Format« (PDF) vorstellten, schufen weitere wichtige Meilensteine.
Zur Jahrtausendwende eroberte dann der Handy-Roman die Displays japanischer Mobiltelefone. Das kostenlose Online-Lexikon Wikipedia zerstörte das Geschäftsmodell der oft nur zu repräsentativen Zwecken erstellten Lexika. 2007 kam dann in den USA Amazons »Kindle«-Lesegerät auf den Markt und erreichte über Nacht die Massen.
Die Ära des elektronischen Lesens
In der Rasanz der Entwicklung der letzten Jahre sieht Ansgar Warner den eigentlichen Beginn der Ära der elektronischen Bücher. Aus seiner Sicht dürften E-Books selbst in klassischen Leseländern wie Deutschland »bis zum Ende dieses Jahrzehnts zur wichtigsten Säule im Buchhandel avancieren«. Antrieb erhalte die Entwicklung, wenn bremsende Elemente wie harter Kopierschutz, Buchpreisbindung und hohe Mehrwertsteuersätze entfallen.
Elektrobücher haben längst begonnen, sich von ihren gedruckten Vorbildern zu emanzipieren. Ausdruck dieser Entwicklung sind Lese-Flatrates (»Kindle Unlimited«) wie in der Musik- und Videoindustrie. Dabei zahlt der Nutzer nur noch für den pauschalen Service des Streamings, der Preis für den Einzeltitel tendiert gen Null. Schließlich sind die Zeiten »privater Lektüre« im Zeitalter vernetzter Geräte endgültig vorbei. »Social Reading« mit speziellen Plattformen und unter Einbeziehung sozialer Netzwerke steht an. Durch die ungestüme Entwicklung des Self-Publishing verschieben sich die Machtverhältnisse zugunsten unabhängiger Autoren. Last but not least bieten E-Books durch technische Zusatzfunktionen wie das Vorlesen deutlich mehr Möglichkeiten als das gedruckte Vorbild.
So gesehen sind von der Vision bis zur massenhaften Anwendung zwar siebzig Jahre verstrichen. Doch die eigentliche Revolutionierung des elektronischen Lesens beginnt gerade erst.
Ansgar Warner: Vom Buch zum Byte. Kurze Geschichte des E-Books. Kindle 2014