Die 14. Documenta, die am 10. Juni in Kassel begann, wird für 100 Tage wieder der stärkste Publikumsmagnet werden, den die größte und wichtigste europäische Kunstschau alle fünf Jahre für sich reklamiert. Akkreditierte Journalisten hatten vorab drei Tage lang die Möglichkeit, sich die Objekte, Installationen, Fotografien, Videos, Performances und Gemälde von Künstlern aus aller Welt in Ruhe anzuschauen.
Schon das größte, weithin sichtbare Werk, das »Parthenon der verbotenen Bücher« der argentinischen Künstlerin Marta Minujin, hat bereits im Vorfeld viele Menschen inspiriert, Bücher einzuschicken, die in Folie verpackt an die griechische Akropolis erinnernde Großinstallation wie eine Wandverkleidung angebracht werden. So findet sich heute an dem Platz, wo die Nazis am 19. Mai 1933 tausende Bücher unliebsamer Autoren verbrennen ließen, verbotene und unterdrückte Literatur aus aller Herren Länder.
Darunter sind die Bücher von Kafka, Brecht, Heine und Heinrich Mann über revolutionäre Schriften bis hin zu Micky-Maus-Heften (die in der DDR verboten waren) – insgesamt 100.000 Bücher aus aller Welt. Sie bezeugen, welche Kraft Diktaturen, Junten und Unterdrückungsregimes dem geschriebenen Wort beimessen.
Überhaupt ist die Documenta14 sehr viel kritischer als ihre Vorgängerin von 2012 und öffnet sich drängenden Fragen unserer Zeit. Dazu zählen Flucht und Vertreibung ebenso wie der Untergang von Sprache und Kultur in Gebieten, die von Hunger, Krieg und Exodus gezeichnet sind.
Es herrscht eine deutliche Kritik am herrschenden Turbokapitalismus vor. Zahlreiche Künstler drücken ihren Unmut gegenüber der unkontrollierten Finanzkrise, der menschenverachtenden Massenarbeitslosigkeit und dem mitunter zynischen Globalismus aus.
Dabei wird es dem Besucher der Documenta14 alles andere als leicht gemacht, die zahllosen Werke zu erfassen, die stärker als je zuvor an den verschiedensten Stätten in- und ausserhalb der Stadt verstreut gezeigt werden. Kassel hat viele Gebäude der von der potthässlichen Nachkriegsarchitektur geprägten Stadt mit einbezogen, die zu finden eine Herausforderung ist, denn es gibt kaum Wegweiser. Die „Neue Kunsthalle“ ist allgemein bekannt, bei „Neue Neue Kunsthalle“ kommen selbst Alteingesessene in Schleudern, bis sich diese als eine Halle im ehemaligen Hauptpostamt entpuppt, die auf einem unbeschilderten Betriebshof hinter einer Plastikplane residiert.
Eine Erfrischung sind dabei die vielen jungen Studentinnen, die an jeder Ecke stehen, um zu helfen, aber absolut nichts über die einzelnen Arbeiten oder die verschiedenen Ausstellungsorte wissen. Hilflos zucken sie mit ihren hübschen Schultern, die Trägerhemdchen heben und senken sich verlegen, sie haben keine blasse Ahnung. »Es wurde versprochen, dass wir bis zur Eröffnung etwas erfahren«, meint die eine und eine andere sagt, sie wüßte, dass es sich bei dem Objekt um etwas mit einem komplizierten Namen handele, den sie aber nicht mehr erinnere … Einfach nur köstlich, und welch selige Dankbarkeit legt sich dann in ihre Blicke, wenn man ein wenig recherchiert und ihnen die fehlende Information zuträgt.
Wer möglichst alles durchstreifen, sehen und miterleben will, darf gut und gerne zwei bis drei Tage für seinen Besuch einplanen, derart mannigfaltig und interessant ist das Angebot. Insgesamt einhundert Tage lang, bis zum 12. September 2017, ist dies möglich. Danach fällt Kassel wieder in provinziellen Schlummer und darf fünf Jahre lang neue Ideen und Konzepte ausbrüten.
Pingback: KI-Kunst: Der Osnabrücker Friedenspanzer - Ruprecht Frieling