Chris Farlowe schwitzt. Er hat ein Paket weißer Handtücher auf eine Box gelegt und macht wiederholt Gebrauch davon. Gelegentlich nippt er Wasser aus einer Plastikflasche und wischt sich mit der flachen Hand über den Mund. Der Sänger trägt ein ins Auge springendes Hawaiihemd mit Tiki-Motiven, jener geheimnisvollen polynesischen Pop-Poesie der 50er Jahre, die Künstler aller Genres inspirierte.
Eventuell liegt die Hitze auch am Material des kurzärmeligen Hemdes, es scheint aus Polyester. Das Hemd trug der Mann mit der erstaunlichen Stimmbreite außerdem bereits beim Konzert am Abend zuvor in Hamm, er reist mit leichtem Gepäck, seine Tournee zieht von London über Budapest, Salzburg, Stockholm durch ganz Deutschland. Nun steht er im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei.
Platz wird benötigt für T-Shirts und die aktuelle Platte »Restoration«, von der die Band drei Stücke spielt. Die gibt es später am Merch-Stand. »Verkauft wird aus dem Koffer und man muss die Beute nicht mit habgierigen Firmen teilen«, schmunzelt mein Freund und Szene-Kenner Heinz-Werner.
An Colosseum ist vieles immer noch so, wie es einstmals in den Jugendjahren der britischen Popmusik begann: mit einer überschaubaren Anlage, meisterhaften Fähigkeiten und Fertigkeiten am Instrument, überbordender Improvisationsfreude und stets dicht am Publikum. Es ist eine Museumsband, wie man sich keine bessere wünschen kann.
Gitarrist Clem Clempson hat den Blues im Blut, ein Rock-Saurier wie Farlowe. Er spielte bei Humble Pie und der Gründungsformation von Colosseum. Mit 14 hatte er fünf Pfund erspart, um eine Wandergitarre zu kaufen. Mehr war nicht drin. Er investierte noch in einen elektronischen Tonabnehmer und packte einen Plastikdeckel in das Schallloch des Holzkörpers, um den Sound einer unerschwinglichen Fender Stratocaster zu erzeugen. Sichtlichen Spaß machen dem 75-jährigen mit den flinken Fingern die Herausforderungen, die ein wesentlich jüngeres Bandmitglied heute an ihn stellt. – Das ist Nick Steed.
Mit Nick Steed hat Farlowe einen Keyboarder an Land gezogen, der wie einst der höchst eigenwillige Thelonious Monk in die Tasten greift. Er variiert die Stücke und verziert sie mit elektronischen Sounds, die selbst einem Profi wie Clem Clempson im Wechselgesang einiges abverlangen. Beispielhaft tönen der Summertime-Blues und Lost Angeles.
Wer das Glück hatte, die Originalformation Colosseum 1971 in Münster oder Herford zu erleben, der verfolgt mit angehaltenem Atem die Entwicklung der ausgedehnten Stücke. Die inzwischen 25-minüte legendäre Valentyne Suite zeigt, wie eine Weiterentwicklung des traditionellen Rhythm & Blues möglich ist.
Der britische Drummer Malcom Mortimore absolviert komplizierte und mitunter verschrobene Läufe auf seinem Schlagzeug, die er solistisch in der Suite vorführt.
Kim Nishikawara ersetzt den 2004 von langer schwerer Krankheit erlösten legendären Mitgründer Dick-Heckstall-Smith an Saxofon und Flöte. Ihm fehlt das enorme Lungenvolumen des Gründerbläsers, seine mitunter verschmitzt-verspielten Einlagen und Soli machen das locker wett.
Mark Clarke entschied sich bereits mit zwölf Jahren für den Bass. Er stieß noch vor der 1971 erfolgten Auflösung der Band zu Colosseum und war dabei, als sich die Bandmitglieder 1994 wiedervereinigten, um erneut auf die Bühne zu gehen.
Chris Farlowe, der am 13. Oktober 1940 geborene Brite, ist der zu Recht verehrte Veteran der Band. In seinem Chor sang schon mal ein Mick Jagger mit. Die Gitarristen Jimmy Page und Albert Lee begleiteten ihn bei ihren Hits. Er musizierte mit Alexis Corner, der Schlüsselfigur der britischen Bluesrockszene der 1960er Jahre, dem Bassisten Jack Bruce, dem legendären Saxofonisten Dick Heckstall-Smith und dem nordirischen Multitalent Van Morrison.
Farlowes gesangliche Bandbreite ist auch noch im hohen Alter phänomenal und reicht von der schwülstigen Ballade über den rauen Rhythm & Blues hin zu zum jazzigen Scat. Dieses improvisierte Singen von rhythmisch und melodisch aneinandergereihten Silben, die lautmalerisch instrumentale Phrasen nachahmen, ist Farlowes Spezialität. »The Voice« nutzt seine Stimme als Instrument, greift die Melodien der Instrumente auf und improvisiert diese.
Es geht in diesen Augenblicken der Loslösung nicht mehr um den Text, es geht um das Gefühl des Schwebens und Vibrierens in einem musikalischen Raum. Das macht Farlowe und Colosseum so unbedingt erlebenswert, denn von den Band-Sauriern ist kaum noch jemand aktiv, der auf seinen alten Stil setzt und sich damit aktiv dem Mainstream verweigert.
Prinz Rupi aus dem Kesselhaus Berlin
Mehr über Chris Farlowe: https://ruprechtfrieling.de/chris-farlowe-legende-des-blues/
Deinem wunderbaren Kommentar ist doch nichts hinzuzufügen, für das tolle Video herzlichen Dank!!
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