»Leben ohne Chris« – ein Musical der Neuköllner Oper Berlin
Zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag klaut Chris die Vespa seiner Schwester Birgit, verzichtet auf einen Sturzhelm und rast mit voller Wucht gegen einen Kastanienbaum. Bumm. Peng. Genickbruch. Ein junges Leben endet, ehe es richtig begonnen hat. Chris ist tot. Oder war es genau der richtige Moment, auszusteigen, bevor er alt, grau und von Wehwehchen und Altersgebrechen gepeinigt ins Reich der Toten einziehen wird?
Sein Ableben hat Chris sich jedenfalls anders vorgestellt. Er spürt nichts, und auch die berühmten Sekunden, in denen angeblich der Kurzfilm des Lebens ablaufen soll, fehlen ihm. Stattdessen hält ihn der Engel des Todes an der Hand und begleitet ihn zu seiner früheren Clique, die schockiert trauert.
Doch die Szenen, die vor seinem inneren Auge ablaufen, zeigen ihm die vielen Baustellen, die er hinterlassen hat: seine Freundin Anna fühlt sich nicht als Witwe, sie ist sogar froh, dass Chris tot ist. Immer wieder wurde sie von ihm versetzt und wartete vergeblich, während er in den Armen einer Anderen lag. Sein Bruder Matze weigert sich gar, zur Beerdigung zu kommen. Er wurde von Chris bereits vom Wickeltisch gestoßen und galt in den Augen des älteren Bruders als unfähiges Weichei. Der wiederum hielt sich für unwiderstehlich und spannte ihm kurzfristig die Freundin aus. Und auch das stets zu kurz gekommene Sofakissen Nadja fühlt sich aus dem Siebenten Himmel verstoßen, als sie ahnt, dass der von ihr Verehrte den zentralen Spruch »Kein Leben ohne Dich« nicht (nur) für sie auf die Wand gesprüht hat.
»Leben ohne Chris« von Peter Lund (Text und Regie) und Wolfgang Böhmer (Musik) entstand als weitere Koproduktion der Neuköllner Oper mit dem Studiengang Musical der Universität der Künste Berlin. Acht Monate arbeitete der aktuelle Abschlussjahrgang an dem Musical und landete von der Frage »Gibt es ein Leben nach dem Tod« bei der Frage »Wie war mein Leben davor«. Im Ergebnis entstand ein Stück, das mit enormer Spielfreude vorgetragen, höchst differenziert und sensibel die Situation vieler Heranwachsender beschreibt.
Das ist eine Generation, die zwischen Hoffnungslosigkeit und Scheißegalhaltung hin und her geworfen ist und sich im Suff betäubt. Um sich mit »Wir waren da« als lebendige Leichen zu Wort zu melden, besprühen sie nächtens die von ihren Vätern tags zuvor renovierten Häuserwände. Die intelligenteren unter ihnen, und Chris scheint so einer (gewesen) zu sein, schreien im SMS-Takt per Twitter die Botschaft in den virtuellen Raum, das alles Scheiße, sinnlos und vergebens sei.
Mit »Leben ohne Chris« gelingt es Regisseur Peter Lund auf faszinierende Art, die banale Realität auf die sonst gern weltfremde Musicalbühne zu bringen und damit das Genre zu beleben. Mit höchster Präzision feilt er jede seiner Figuren aus, im Stück gibt es letztlich weder Gewinner noch Verlierer. Auch Obermacker Chris ist nur vordergründig der tolle Hecht, für den er sich hält; im Ergebnis wird er zum Würstchen. Jeder der in einem engmaschigen Beziehungsgeflecht miteinander verbundenen Mitglieder seiner Clique erfährt, dass er sowohl sich selbst wie andere betrügt und sich damit um ein Stück Leben bringt. Insofern wirkt das Musical wie ein Kammerspiel, das wie unter einem Brennglas die einzelnen Charaktere ausarbeitet und seziert.
Zum Klingen gebracht wird das Stück von Hans-Peter Kirchberg, dem Musikalischen Leiter der Neuköllner Oper und Andreas Altenhof. Faszinierend ist es, den Leistungsbeweis der Absolventen des UdK-Studiengangs zu beobachten, die mimisch, stimmlich und tänzerisch brillieren. Unter den möglichen Stars von Morgen ragen Tobias Bieri (Todesengel) und Christopher Brose (Chris) hervor. Im perfekten Zusammenspiel bescheren Dennis Jankowiak (Danny) und Hendrik Schall (Henne) mit einem sturzbesoffenen Pogo den Höhepunkt des Stücks.
Wie ist die Musik von Wolfgang Böhmer? Ist sie auf der Höhe der Zeit? Bringt sie Inhalt und Handlung auf eine transzendente Ebene? In einer Oper ist sie sehr wichtig für den Gesamteindruck.
Bei einem Musical geht es eher weniger um Transzendenz als um die Unterstützung der darstellerischen Aussage. Das gelingt Böhmer ausgezeichnet. Seine deutlich zurück genommene Musik ist im Kern rockig-poppig, ausgesprochene Ohrwürmer mit Hitpotential konnte ich nicht entdecken. Einige Songs wirken baladesk, für alles andere ist ein Musikwissenschaftler der bessere Ansprechpartner.
zur zeit nicht unbeding tmein fall…..
wie ich hörte hats nen exkollegen mit mitte 20 durch ne geplatzte ader im denkapparat gerafft….soll nicht allzu lange her sein , aber genaues weiss ich noch nicht…
Danke. Jetzt habe ich eine Vorstellung von der „Oper“, die ein Musical ist. Alles sehr interessant. Sollte man sich ansehen/hören.
klingt interessant, aber Köln ist zu weit weg.
Pardon, Neukölln ist ein Stadtteil von Berlin – das ist aber von Österreich auch nicht viel näher
Lieber Herr Frieling,
das neue Musical von Lund & Böhmer welches sie oben stehend rezensieren heißt nicht „Chris ist tot“ sondern „Leben ohne Chris“. Siehe auch http://www.neukoellner-oper.de
Danke sehr, ist schon korrigiert.
Das kurze Leben ist selbstzerstörerisch bis zur Selbstzersörung. Unser Leben spiegelt sich darin, wenn wir uns den Spiegel vorhalten lassen.
Das Musical würde ich gerne hören und sehen.
Deine Beschreibung ist super.
Gerhard
Lieber Gerhard,
von Bern nach Berlin ist es doch kaum eine Viertelstunde