Es gibt Zeitgenossen, die meinen, von einer Käsetorte abzustammen. Dank der Milchsäurebakterien fühlen sie sich gegen Viren gefeit. • Andere wissen nicht, wohin mit ihrem Mammon und schießen sich mit Raketen in Raum und Zeit. Sie werden in Geschichtsbüchern verewigt, die bei Drucklegung Altpapier sind. • Wiederum andere fühlen sich wie ein kleiner Prinz, der auf einem Meteor zur Erde rast und die Zivilisationsgeschichte des Homo sapiens neu begründen will. • Und dann gibt es Menschen, die vom Lesen nie genug bekommen. Sie nennen das Sammeln und Stöbern in Büchern die schönste Nebensache der Welt. Auf diese Gruppe wirkt das Bücherhotel Groß Breesen wie ein Magnet, der sie magisch anzieht.
Zu Besuch im Bücherhotel Groß Breesen
Ein Bücherhotel? – Lichtgott Apollon scheint persönlich vom Himmel gestiegen zu sein, um diese Oase der Ruhe und Geborgenheit jenen zu schenken, die gern schmökern und Bücherschiffe besteigen. Die Arche pflanzte der Gott der Künste und der Literatur 80 km vom Ostseestrand entfernt ins mecklenburgische Nirgendwo. Dort findet sich heute ein verwunschenes Paradies, das mehr als 500.000 Bücher beherbergt, die gelesen, getauscht und verbreitet werden dürfen.
Das Bücherhotel ist ein Ort der Kraft für Büchermenschen. Groß Breesen steht für eine unbeschwerte Auszeit mit Büchern, zum Lesen oder zum Schreiben. Hier dreht sich alles um die entspannte Glückseligkeit, die im Einklang mit der Natur und dem genussvollen Umgang mit Literatur erzielt werden kann.
Das Herz des Bücherhotels
Das Zentrum der Anlage bildet ein aufwendig saniertes Gutshaus aus dem Jahre 1833. Das Gebäude manifestiert den Gedanken von der guten alten Zeit, in der alle Uhren ehrfurchtsvoll stehen bleiben, sobald ein Buch aufgeschlagen wird.
Conny Brock führt das Bücherhotel Groß Breesen. Mit ständigen Blick auf ihre Gäste und dem Willen, ihr Unternehmen voranzutreiben und auszubauen, wirkt sie seit 1992 in Groß Breesen.
Nach dem Zusammenbruch der DDR eröffnet die heutige Hotelbetreiberin ein Reiseunternehmen. Mit unternehmerischer Weitsicht entwickelt sie den Betrieb. Bald verfügt sie über Reisebüros und Busse, mit denen sie Europa erkundet. Eine Tour führt sie 1996 ins walisische Bücherdorf Hay-on-Wye, über das sie in der Hotelfachpresse gelesen hatte.
Dort staunt sie über betagte Gemäuer, die bis zum Dachfirst vollgestopft mit Büchern auf Vielleser warten. Das einstige Kino des Ortes dient als Herberge für Abertausende Folianten. Dies entflammt sie ebenso wie die Antiquariate des ungewöhnlichen Ortes. Hay-on-Wye hatte sich als Aprilscherz des Jahres 1977 zum Königreich erklärt und wurde zu einer Pilgerstätte für Bücherwürmer. Conny ist begeistert.
Mit der Vision eines deutschen Pendants vor Augen greift sie zu, als ihr das einstige Gutshaus Groß Breesen angeboten wird. Aus dem Bauch heraus entwickelt sie ihren Traum: Auf dem Gelände des einstigen Anwesens soll ein Wohlfühlort für Bücherwürmer entstehen.
Heute sieht jeder Gast, wie diese fixe Idee im Laufe von zwei Jahrzehnten Gestalt annahm und sich zu einem Gesamtkunstwerk formt. Wer von Brock und ihrem Team empfangen wird, fühlt sich aufgenommen.
Wie wird man Bücherhotelier?
Wie wird man Bücherhotelier? – Mit acht bekommt Conny ihr erstes dickes Buch geschenkt. Die Drittklässlerin verletzte sich beim Rodeln und muss zwei Tage das Bett hüten. In dieser Zeit erschließt ihr der schwäbische Dichter Wilhelm Hauff die Märchenwelt. Seine Geschichte vom kleinen Muck, die 1953 von Wolfgang Staudte weltweit erfolgreich mit der DEFA verfilmt wurde, zieht sie in Bann.
Mit frisch erwachtem Appetit frisst sie sich durch die Bibliothek ihres sechs Jahre älteren Bruders, mit dem sie ein Zimmer in einer Reihenhausscheibe teilt. Russische, türkische und finnische Volksmärchen stehen auf dem Speisezettel. Bücher sind in der Familie kein Hauptnahrungsmittel. Der Vater arbeitet auf der Werft, die Mutter ist Hausfrau. Nur zum Geburtstag bekommt die Tochter Bücher geschenkt.
Mit Literatur geht es in der Schule weiter. Conny liebt ihren Deutschlehrer. Der stellt Bücher vor, die nicht im Lehrplan stehen. Sie lernt Romane von Heinrich Böll kennen. Sprache und Satzbau begeistern sie bei Wolfgang Borchert und dessen »Hundeblume«. »Der kleine Prinz«, steht für sie über allem, und die Abiturzeit bringt ihr Goethes »Faust« näher. Auf den Namen »Faust« hört später ihr erster Hund …
Bauchgefühl und Marktlücken
In Hay-on-Wye macht es Klick. Conny sieht eine Vision ihrer Träume vom Leben inmitten Unmengen von Büchern. Gleichzeitig erkennt sie eine unbesetzte Marktlücke, die in Wales beispielhaft geschlossen wird.
Die Frau, die von einem Leben inmitten von Büchern träumt, geht auf die Jagd. Um ein Leben in einer gemütlichen Stube mit hohen Buchregalen und einem Ohrensessel zu führen, braucht sie Bücher. Da wird die pädagogische Hochschule bedingt durch die gesellschaftliche Wende aufgelöst.
Vor der Universität steht ein hungriger Container. Die gesamte Bibliothek fliegt aus dem Fenster in den Müll. Brock greift schnell entschlossen zu: Alles, was sie packen kann, schleppt sie aus dem Archiv heraus. Sie startet bei »A« und nimmt wahllos von jedem Buchstaben des Alphabets, soviel sie tragen kann. So hat sie von jedem Buchstaben ein paar hundert Bände und legt mit 5.000 geretteten Büchern den Grundstock für das heutige Bücherparadies.
Eines Tages klingelt ihr ehemaliger Russisch-Professor an der Tür. Er zieht in eine kleinere Wohnung und bringt ihr seine Bücher vorbei. In der Kiste ist »Anna Karenina« im russischen Original. Der alte Lehrer hatte im Studium bemerkt, dass Conny es nur in Übersetzung gelesen hatte und meinte, sie könne es ja jetzt mal im Original lesen.
Es entsteht die Idee des Tauschens. »Bring zwei Bücher und nimm eins wieder mit« lautet die Parole, und die Leute strömen nach Groß Breesen. Hotel, Gästehaus und Keller füllen sich mit Romanen, Kurzgeschichten, Sachbüchern, Gedichtbänden, Lexika und Nachschlagewerken. Eine riesige Scheune wird saniert, in der sich die Bücher türmen. Rund 500.000 Exemplare sind es inzwischen, und es wird kaum eine Leseratte geben, die diesen Ort mit leeren Händen verlässt.
Leben im Büchermeer
Die Königin des Büchermeers legt die Bücher wie einen flauschigen Mantel um sich. Sie will die Präsenz ihrer Schätze wahrnehmen, ihren Atem einfangen, ihren Pulsschlag hören. Ob es Texte großer oder kleiner Geister sind, ist bedeutungslos. Hauptsache, sie wurden gedruckt.
Bücher verkaufen will Conny Brock nicht, der Marktwert eines Buches lässt sie kalt. Ein Abenteuerroman ist ihr genauso wertig wie ein philosophisches Grundsatzwerk. Angebot und Nachfrage spielen im Bücherhotel keine Rolle. Hier hat die Institution Buch es geschafft, die Zeit anzuhalten. Jeder findet in dieser Bücherscheune an irgendeiner Stelle seinen Schatz. Es geht weniger um Literatur als um das Hobby des Lesens.
Die Entwicklungsgeschwindigkeit des Projekts stellt die Betreiberin, ihren Mann Torsten und Tochter Maxi, die sich fachlich auf die Nachfolge vorbereitet, vor Probleme. Es kommen neben den Hausgästen Tagesausflügler aus nah und fern, die nur die Bücherscheune besuchen und sich vom Restaurant verwöhnen lassen wollen. An manchen Wochenenden lassen sie bis zu 5.000 neue Bücher zurück, die Unterschlupf suchen.
Die Corona-Pandemie bremste die Entwicklung positiv. Nach zwanzig Jahren kann Luft geholt und abgewogen werden. Gemeinsam mit Freunden wird die Scheune aufgeräumt, verschimmelte Bücher werden entsorgt. Die Küche bedient vorerst nur Hotelgäste. Dies führt zu einem Klima des entspannten Miteinanders, das den meisten Hotelbetrieben fehlt.
Conny, Torsten, Maxi und ihr Team engagierter MitarbeiterInnen betreiben das Haus mit dem Anspruch, dass es jedem »unheimlich gut gehen soll«. Gleichzeitig muss die Firma wirtschaftlich arbeiten. Diese Gratwanderung ist anspruchsvoll und verlangt Fingerspitzengefühl.
Die Bücher bilden bei allem die Kulisse, sie sind das Bühnenbild der Inszenierung. Darin besteht das Einzigartige und Unverwechselbare des Bücherhotels. Das Konzept funktioniert und belohnt die Initiative der Betreiber mit glücklichen Gästen.
Wirklich sehr schöner und aufschlussreicher Artikel, über eine sehr innovative Idee.
Dankeschön!
Sehr gelungener Artikel ! Faust und Der kleine Prinz erklären mir eine Seelenverwandschaft. Hoffentlich schaff ich es, auf der Spur zu bleiben.
Ich habe dort glückliche Stunden verlebt und ein Buch geschrieben. Und ich kenne viele Hotels mit hohem Anspruch, aber die Wirklichkeit ist meistens anders.
Schließe mich gern den positiven Eindrücken aus vielfachem persönlichen Erleben an! Die Leidenschaft und Herzlichkeit von Familie Brock und ihrem Hotelteam ist einzigartig!
Vielen Dank für die Blumen, die ich gern nach Groß Breesen weiterreiche!
Lieber Prinz Rupi! Bin erst jetzt dazu gekommen, diesen ganz tollen Bericht über eine exzellente Idee der Familie Brock zu lesen. Wenn ich jemals in die Gegend komme, werde ich es mir nicht nehmen lassen, das Bücherhotel Groß Breesen zu besuchen.
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