Die Bregenzer Festspiele 2017 demonstrieren mit »Carmen« und »Moses in Ägypen«, welche gewaltige Spanne zwischen Kitsch und Kunst im Musiktheater liegt.
»Carmen« beeindruckt durch gewaltiges Bühnenbild
Alle zwei Jahre überrascht Bregenz auf der mit 7.000 Plätzen größten Seebühne der Welt mit einem neuen überdimensionalen Bühnenbild. In diesem Jahr steht »Carmen« von George Bizet auf dem Programm. Und das Wunder gelingt mit einer Materialschlacht. Zwei riesige, bis zu 21 Meter hochaufragende Frauenhände werfen einen Stapel tonnenschwerer Spielkarten in die Luft, die dort wie erstarrt stehen bleiben. Diese Karten stehen für das Schicksalsspiel auf dem See, für das Glück (oder Unglück) in der Liebe, für Carmens Wurf einer Rose, die zufällig von dem Soldaten José aufgehoben wird, der sich daraufhin unsterblich in die Tabakarbeiterin verliebt sowie für das Kartenlesen, auf das sich die rassige Spanierin bestens versteht.
15 Spielkarten verharren in die Luft, die übrigen bilden die eigentliche Fläche, auf der das Melodram spielt. Durch Videoprojektionen werden die Karten scheinbar gedreht und zeigen ihre Farbe, für die Titelfigur steht natürlich Herz Dame. Aber auch historische Fotos von Sevilla, dem Schauplatz der Oper, werden eingeblendet sowie verblichene Autogrammfotos berühmter Toreros.
Bizets 1875 uraufgeführter Vierakter erlebte verschiedene Änderungen, die vor allem dem Sittenbild der jeweiligen Zeit geschuldet waren. Mal nahm das Publikum Anstoß an einer allein tanzenden Frau, mal war es ihre Typisierung als Prostituierte oder Zigeunerin, die Kritiker auf den Plan rief.
Best of Carmen
Kasper Holtens Bregenzer Inszenierung konzentriert sich wie in einem »Best of« auf die musikalischen Highlights der Oper und spart diverse, teils lange Dialoge aus. So entsteht eine schnelle Abfolge weltbekannter Melodien von der »Habanera« bis zum berühmten Torero-Motiv »Auf in den Kampf«, das der Volksmund gern mit »… die Schwiegermutter kommt« verballhornt. Die Handlung lässt sich runterbrechen auf »schöne Frau verdreht Männern den Kopf durch Gesang«. Eine Entwicklung der Figuren ist nebensächlich, Carmens Hintergrund als Mitglied einer Seeräuberbande der Kulisse geschuldet, und da es Wasser im Überfluss gibt, wird die Hauptdarstellerin zum Schluss auch noch von dem enttäuschten José im Bodensee ertränkt.
Es geht in Bregenz um Effekt, um die obligatorischen Stuntmen, die sich von den Spielkarten abseilen, um ein Ballett, das im Wasser patscht, um ein paar Feuerwerkskörper, die entzündet werden, und kaum noch um Oper im klassischen Sinn. Da jede der tragenden Rollen wegen der instabilen Witterungsverhältnisse zudem dreifach besetzt ist, handelt es sich eo ipse um ein Glücksspiel, wen der Zuschauer hört. Es ist halt ein Vabanquespiel, das prächtige Bühnenbild mit dem Kartenwurf macht es deutlich. Den Zuschauern jedenfalls gefällt es offensichtlich, alle Vorstellungen in diesem Jahr sind ausverkauft, lediglich für das nächste Jahr gibt es noch Karten.
Moses in Ägypten
Gänzlich überraschend, erfrischend unkonventionell und als große Überraschung stellt sich hingegen die zweite Produktion der Bregenzer dar, die im Festspielhaus aufgeführt wird: Rossinis »Moses in Ägypten«.
Gioachino Rossinis Dreiakter »Mosè in Egitto« (»Moses in Ägypten«) behandelt die biblische Erzählung vom Exodus des Volkes der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Im Kampf der Vertreter der verschiedenen Kulte lässt Moses Ägypten die Macht seines Gottes Jahwe spüren, indem er zehn Plagen von Finsternis und Heuschreckenschwärmen bis hin zu Hagel und Feuer über die Sklavenhalter kommen lässt. Im Ergebnis fliehen die Israeliten durch das sich vor ihnen teilende Rote Meer, das über den nachfolgenden ägyptischen Truppen zusammenschlägt und sie vernichtet.
Es handelt sich bei dem Stoff um die Ursprungsgeschichte Israels, die im Tanach, der hebräischen Bibel, verzeichnet ist und das zentrale Glaubensbekenntnis des Judentums bildet. Rossini würzt die historisch vollkommen ungesicherte Legende mit einer Liebesgeschichte zwischen dem Sohn des Pharao und einer Israelitin, zeigt also eine frühe Form von Inklusion.
»Moses in Ägypten« als Puppenspiel
Dass diese Oper trotz ihrer prächtigen Chorszenen, Arien und Rezitative selten aufgeführt wird, liegt an den Herausforderungen, denen sich Regie und Bühnenbild stellen müssen. Es ist kein Zufall, dass bereits die Uraufführung 1818 in Neapel das Gelächter des Publikums provozierte, als Bühnenarbeiter sich in den wallenden Tüchern verfingen, mit denen die Teilung des Meeres gezeigt werden sollte.
In Bregenz wird diese Problematik durch Regisseurin Lotte de Beer mit Bravour gelöst. Die eigentlichen Darsteller sind nämlich Puppenspieler, das niederländische Ensemble »Hotel Modern«. Diese einzigartigen Künstler spielen feinfühlig mit klitzekleinen Modellen und Marionetten im Vordergrund des Bühnenraums die jeweiligen Szenen und projizieren diese im Life-Mitschnitt in gewaltiger Größe auf eine Fläche, die sonnengleich über den Akteuren prangt.
Mit einfachsten Mitteln werden so die Schrecknisse dargestellt, die Ägypten heimsuchen. Allein die Darstellung der Hungernot mit verendeten Tieren und verhungernden Menschen ist eindringlich und hinterlässt einen tiefen emotionalen Eindruck. Mit einem Bunsenbrenner wird die Miniaturwelt in Flammen gesetzt, auf der Leinwand wirkt es, als fege ein Feuersturm durch Wohnhäuser und Palast. Und die Teilung des Meeres wird en miniature gespielt, um in der Projektion zu wirken, als teile sich der Bodensee und verschlinge anschließend die tyrannischen Truppen des Pharaos.
Darüber hinaus bewegen die Puppenspieler aber auch die Choristen und Sänger auf der Bühne. Sie stellen sie zu Gruppenbildern zusammen, korrigieren deren Haltung und demonstrieren auf diese Weise, dass alles eine ineinander greifende grandiose Inszenierung ist. Hinzu kommt Rossinis Musik, die nuancenreich und fein die Tragikomik der Geschichte herausbildet sowie perfekt mit der Choreographie korrespondiert. Die Wiener Symphoniker unter der Stabführung Enrique Mazolas verhelfen dieser glücklichen Inszenierung zum Gesamtkunstwerk.
Wer in Bregenz diesen einmaligen Wurf verpasst, darf sich auf die Oper Köln als Koproduzenten freuen, wo »Mosè in Egitto« im April 2018 an sieben Abenden gezeigt wird.
Bregenz zwischen Kitsch und Kunst
Bregenz präsentiert in diesem Jahr die Oper der großen Gegensätze. Auf der einen Seite wird mit Unmengen Stahl (allein Carmens linke Hand wiegt 24 Tonnen), Verblendmaterialien und Technik, an der 37 verschiedenen Firmen drei Jahre lang arbeiteten, ein Bühnenbild gigantomanischen Ausmaßes errichtet. Darauf wird dann gefälliger Mainstream präsentiert, der ständig Gefahr läuft, in Kitsch abzurutschen. Auf der anderen Seite wird beim »Moses« gezeigt, wie mit einem Minimum an Material und Gerätschaften ein feingliedriges Gesamtkunstwerk entsteht, das seinesgleichen sucht.
2019 wird Bregenz beweisen müssen, ob die Festspiele mit »Rigoletto« endgültig im Mainstream versinken oder dem dort gern beschworenen »Klasse statt Masse«-Prinzip folgen.
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