Wie man einen alten Ochsen in Gang bringt
Eine Allegorie
Es war einmal ein Verein, der so alt war, dass sich selbst die ältesten Mitglieder nicht mehr daran erinnern konnten, wann er gegründet worden war. Man erzählte sich, es sei irgendwann zwischen der Erfindung des Rades und der ersten gedruckten Bibel gewesen. Der „Verein zur Pflege der ehrwürdigen Bräuche und Sitten“ – kurz Ehrbräu – war ein Bollwerk der Tradition, ein Hort für Rituale, die wie alte Eichen unverrückbar schienen.
Doch wie ein Baum, der von innen zu faulen beginnt, zeigten sich Risse in der stolzen Struktur. Die Mitglieder wurden weniger, und die wenigen Jungen, die sich in die Versammlungen verirrten, kehrten meist nicht zurück. „Wir sterben aus!“, lamentierte der Vorsitzende mit donnernder Stimme – als wäre er selbst Teil der letzten Generation, die diesen alten Baum noch schützen konnte.
Eines Tages aber trat ein junger Mann, Enkel eines langjährigen Mitglieds, dem Verein bei. Mit unverbrauchtem Blick sah er, wie sich die Mitglieder schwerfällig durch ein von Motten zerfressenes Teppichmeer und verstaubte Ehrenwimpel bewegten. Es war, als versuche eine alte Uhr verzweifelt, die Zeit anzuhalten. Doch der Junge tickte anders: Warum nicht eine neue Feder einsetzen, damit das Uhrwerk wieder reibungslos läuft?
„Warum gestalten wir unser Vereinsheim nicht einladender?“ fragte er während einer hitzigen Generalversammlung. Seine Stimme durchbrach die schwere Luft wie ein frischer Windstoß. „Nicht die Bräuche ändern – die sind unser Herz. Aber das Drumherum modernisieren, damit wir wieder wachsen können.“
Ein Raunen ging durch die Reihen. Herr Knurrmeier, ein Grummeln in Menschengestalt, rief: „Das ist doch, als würde man einem Ochsen ins Horn kneifen! Unsere Traditionen sind unveränderlich!“
Doch voller Elan hielt der Junge dagegen: „Ich will die Tradition nicht antasten. Aber warum sollen wir uns das Leben selbst schwer machen? Niemand will sich in einem Labyrinth aus alten Möbeln und verblichenen Fahnen verlieren, nur um ein Glas Bier zu trinken.“
Mit einer Mischung aus Skepsis und Verzweiflung stimmten die Mitglieder schließlich zu, zumindest einen Versuch zu wagen. Und so begann die Verwandlung. Nicht der alte Baum wurde gefällt – vielmehr wurde der Boden um ihn herum geebnet, die Wege neu gepflastert. Das Vereinsheim wurde heller, einladender: warme Farben, klare Strukturen, ein neues Logo mit einem stilisierten Ochsenkopf – Sinnbild für die Verbindung von Altem und Neuem. Kein Bruch, sondern eine behutsame Handreichung.
Zu aller Erstaunen begann das Experiment zu fruchten. Die Mitglieder, die sich zuvor wie Mühlräder im Morast bewegten, fanden neuen Schwung. Jüngere Besucher blieben länger, spürten den Reiz der Tradition, ohne von der Schwere des Umfelds erdrückt zu werden. Der Baum des Vereins begann wieder zu blühen. So zeigte sich: Selbst ein alter Ochse kann in Bewegung kommen, wenn man ihm kräftig ins Horn kneift. Es war nicht der alte Weg, der verlassen wurde – es war ein frischer Wind, der den Staub wegblies und den Traditionen das Atmen ermöglichte.
Es war ein Weg der Hoffnung.