»Le tour du monde en quatre-vingts jours«, »Reise um die Erde in 80 Tagen« nannte Jules Verne seinen 1873 veröffentlichten Erfolgsroman. Darin beschreibt er die höchst abenteuerliche Weltreise eines reichen englischen Exzentrikers namens Phileas Fogg sowie seinen Dieners Passepartout. Der Journalist Helge Timmerberg reist 135 Jahre nach Vernes großem Wurf ebenfalls »In 80 Tagen um die Welt«, wobei ihm wesentlich schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen als dem leidenschaftlichen Whist-Spieler Phileas Fogg. Während Fogg noch sein halbes Vermögen in bar mit sich führte, wurde Timmerbergs Reise durch ein gut gefülltes Spesenkonto abgefedert, das weltweit verfügbar ist.
Der Autor reist per ICE mit 230 km/h von Berlin nach München, wo er in einer Wohnzimmer-Kneipe im Bahnhofsviertel landet, in der sich einsame Männer beim Weizen trösten. Er fährt weiter nach Venedig und begegnet bereits am Bahnhof einer Prozession von abertausend Touristen mit Masken, spitzen Nasen und schwarzen Umhängen. Venedig feiert Karneval, und wer so bescheuert ist, ausgerechnet in diesem Trubel den Canale Grande sehen zu wollen, der zahlt für das einzige freie Zimmer im »Marco Polo« eben 330 Euronen, selbstverständlich ohne Frühstück. Irgendwie fällt dem Weltreisenden auch hier nichts Besseres ein, als die nächste Trinkhalle aufzusuchen, um sich die Kante zu geben. Ihm geht es dabei um »das disziplinierte, konzentrierte, mathematische Besaufen«.
Die dritte Nacht seiner Weltreise verbringt Timmerberg in Triest, und raten Sie mal wo er landet? Na klar, in einem kleinen Weinlokal, an den Stehtischen für Raucher. Die Welt in achtzig Tagen zu umreisen verlangt nicht, wie zu Jules Vernes Zeiten, permanentes, pausenloses und zielstrebiges Voraneilen. Heute braucht es das glatte Gegenteil: Trinkfestigkeit, Drogenerfahrung und ein gewisses Klebenbleiben, eine gewisse Unentschlossenheit. Als unentschlossen erweist sich der Autor immer wieder, dies ist sein deutlichster Charakterzug. Später, denn hier soll nicht jede Station erwähnt werden, als er in Bombay, das heute Mumbai heißt, weilt, überlegt er beispielsweise, mit welchem Verkehrsmittel er sich weiter bewegen will. Jules Verne ließ seinen Helden mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta reisen, und der hat während dieser Fahrt die Frau seines Lebens getroffen. Die Frau des Lebens, sinniert Timmerberg, ist keine schlechte Vision, aber dafür zweiunddreißig Stunden mit dem indischen Zug?
Nun geht eine Weltreise in heutiger Zeit dank moderner Verkehrsmittel sehr viel unkomplizierter als anno Verne. Und dennoch hat Helge immer wieder Entscheidungsschwierigkeiten, die sein Wesen auszumachen scheinen. Der Reisende, der noch die Nachwehen der Hippiezeit in sich spürt, wendet sich an einen Guru um Rat. Schließlich bereiste Timmerberg bereits in der Blütezeit der Gurus Indien und kennt sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet aus. Jedoch fehlt die Antwort des Meisters nicht zur Zufriedenheit des Reisenden aus, denn letztlich empfiehlt er ihm, eine Münze zu werfen. So kann es Weltreisenden ergehen! – In dem Augenblick fällt dem Rezensenten ein, dass er selbst eine solche Entscheidermünze in seinem Schreibtisch in Griffnähe hat. Diese Münze, ein Geschenk einstiger Kollegen, sollte ihm helfen, grundsätzliche Entscheidungen seines Lebens zu fällen, da er zu jener Spezies gehört, und hier entsteht eine Gemeinsamkeit mit Timmerberg, die unfähig sind, sich zu entschließen.
Ansonsten erweist sich Timmerberg als arrivierter Althippie, der mit gefülltem Säckel nicht mehr in Hauseingängen oder der Bahnhofsmission kampieren und per Anhalter durch die Galaxis trampen muss. Er genießt den Luxus der Sterne-Hotels und lässt sich vor Ort gern mit dem Taxi chauffieren. Bedrängt ihn ausnahmsweise das nackte Leben, wie beispielsweise in Shanghai in Gestalt besonders aggressiver Bettler, rettet er sich vor dem Mob in eine Droschke und braust davon. Sozialkritik ist nicht das Thema des Buches.
Immerhin schafft es der Autor, seiner Weltreise eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, die den Leser in Bann schlägt. Er unterstützt dies durch eine flotte Sprache sowie milieudichte Schilderungen über Drogenexzesse. Hier spürt der Leser, dass Timmerberg life dabei war und sein Wagemut ihn bevorzugt ins Land der Kopfreisen führte. Er kennt die Illusionsromantik des Reisens, er predigt Toleranz und fühlt sich schließlich doch am wohlsten dort, wo er startete und wieder ankommt: im multikulturell gefärbten Berlin.
»In 80 Tagen um die Welt« ist lesenswert für den gestandenen Reisenden, der sich an dies oder jenes erinnern möchte. Es ist kein Reiseführer, und es sucht auch nicht Erkenntnisse in Slums und Absteigen, wie sie von einem Journalisten vielleicht erwartet werden. Das Buch ist amüsant, und der Autor ist fraglos weit herum gekommen. Die Freude am Reisen, mit Ausnahme des Abstechers nach Mexiko-Stadt, scheint ihm dabei jedoch mit den Jahren abhanden gekommen.
Helge Timmerberg: In 80 Tagen um die Welt
Rowohlt Berlin 2008
ISBN 9783871345937
Weitere Leseempfehlungen von Wilhelm Ruprecht Frieling auf Literaturzeitschrift.de
Sehr interessant! Scheint mir sehr lesenswert, und daß einem die Freude am Reisen trotz modernster Technik und allen Komforts abhanden kommen kann ist für mich persönlich gut nachvollziehbar.
Schön! Ein Buch über Reisen muss ja nicht unbedingt ein Reiseführer sein, aber gleichzeitig reiseverführerisch.
Schönes Thema! Da du ja selbst ein Globetrotter bist, kannst du das noch besser beurteilen. Für mich ist bisweilen schon die Zugfahrt von Augsburg nach München eine gefühlte Weltreise.
Reisen kann schön und interessant sein. Aber Vorsicht bei unserer Bundesbahn, die vielleicht in chinesischen Aktionärs-Händen eine Wandlung zum Besseren erfährt. Meine Frau und ich mussten jüngst auf einer Fahrt im ICE nach Hamburg in einem Großraumwagen auf reservierten Fensterplätzen hintereinander sitzen. Die Sicht nach draußen war außerdem noch durch einen Teil der Außenwand versperrt. Da kommt wahrlich Freude auf beim Reisen!
Mit meinem halben Vermögen, komme ich mit dem Moped gerade mal bis zum Nachbarskaff, da bleibt dann auch nicht viel Spielraum für den Alkoholkonsum!
Trotz alledem ist eines sehr interessant:
Wer gibt einem so einen Haufen Asche, um durch den Globus zu turnen? (Muss man sich da irgendwo bewerben? Saufen und im Zug sitzen bekomme ich auch bestens hin…)
Naja… mein Sofa ist auch recht bequem!
Grüße
Darsten
Es muss natürlich:
Grüße
Carsten
heißen!
Sorry…
Frag doch mal bei Rowohlt an
Könnte man tatsächlich machen:
– Ab dem ersten Januar (wie es derzeit leider aussieht) bin ich wohl wieder mal ohne Ablösesumme auf dem Markt zu haben
– werde nächste Woche 39, gelte zwar nicht als Althippie jedoch als Altwaver (auf diesen Begriff erhebe ich das Copyright!)
– einen Bericht, wie ich in Kneipen Bier trinke, bekomme ich wohl auch noch gebacken!
Nur blöd, dass die Idee schon vor meinem Einschreiten umgesetzt wurde…
Habe ein Rezensionsexemplar bekommen, als es gerade veröffentlicht wurde. Vorher hatte ich noch keinen Timmerberg gelesen muss aber sagen, dass es ganz lustig und auch sprachlich gut geschrieben wurde. Vielleicht etwas einseitig, aber doch ganz lesenswert.