In den Fängen der Jugendpsychiatrie
In farbenfrohen Hippiezeiten schockierten Jugendliche in aller Welt mit lauter Beatmusik und langen Haaren Eltern, Lehrer und die konservative Öffentlichkeit. Das Establishment reagierte verständnislos auf die »Negermusik« und versuchte durchaus brutal, sich gegen die aufmüpfigen Kinder und Jugendlichen zu wehren:
• Hermann Hesse, Verfasser von »Der Steppenwolf«, »Narziss und Goldmund«, »Siddharta« sowie weiterer bedeutender Werke der Weltliteratur, lief von daheim weg. Dafür wurde der aufsässige Knabe in der Nervenheilanstalt Bad Boll von dem Prediger und selbst ernannten »Teufelsaustreiber« Christoph Blumhardt sechs Wochen lang mit Gebeten zur Austreibung des »Dämons« bis zu einem Selbstmordversuch gepeinigt. Anschließend wurde der Fünfzehnjährige in die Irrenanstalt Stetten im Remstal gesperrt.
• Der US-Sänger und Songwriter Lou Reed wurde als aufsässiger 17-jähriger von seinen Eltern ins Creedmore Psychiatric Hospital gesteckt und dort mit Elektroschocks gequält. In dem bitteren Stück »Kill Your Sons« auf der 1974 erschienenen LP »Sally Can´t Dance« hat er diesen »Erziehungsversuchen« ein Denkmal gesetzt.
• Der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho, Autor von »Der Alchimist«, revoltierte. Er wurde deshalb von seinen Eltern kurzerhand für geistesgestört erklärt und gleich dreimal einer Elektroschocktherapie ausgesetzt.
• Der deutsche Autor Ruprecht Frieling aka Prinz Rupi weigerte sich, seine Haare schneiden zu lassen, Volksmusik zu hören und sich den gesellschaftlichen Normen zu unterwerfen. Der »Bücherprinz« wurde dafür bereits als 15-jähriger acht Wochen lang in die geschlossene Psychiatrie verfrachtet …
Gefangen im dunklen Turm
Leseprobe aus dem Buch »Der Bücherprinz«
Es geschah anno 1967 kurz vor Beginn der Sommerferien. Ich war gerade fünfzehn geworden. Ein schwerer Mercedes fuhr vor. Ein mir vertrauter Chauffeur aus dem Betrieb meines Vaters lud mich ein und brauste mit mir davon. Ich hatte ihn schon häufiger begleitet und fühlte mich in seiner Begleitung wohl. Im Radio lief der damalige Nummer-Eins-Hit »A Whiter Shade Of Pale« von Procol Harum. Wir sausten eine dreiviertel Stunde über die Autobahn westwärts, dann verließ der Fahrer im westfälischen Hamm die Piste, und wir rollten durch die Stadt. Am Ortsausgang kamen wir an einem lang gestreckten Grüngürtel vorbei, der sich mit einer weithin sichtbaren Tafel als Kurpark eines Vorortes namens Bad Hamm empfahl.
Nach einigen Kilometern durch das Kurbad bogen wir auf das Gelände eines düsteren Gebäudekomplexes aus massivem Stein ein. An dem durch schwere Stahltore gesicherten Eingang standen stabile Fahnenmasten mit den Flaggen der Bundesrepublik und Nordrhein-Westfalens. Hinweisschilder dirigierten Besucher zu den mehrstöckigen Häusern. Pflanzkübel aus Beton und Rasenflächen simulierten Natur. Kein Mensch lief in dieser nach Krankenhaus riechenden Geisterstadt umher. Aber handelte es sich wirklich um eine Klinik? Ich konnte es nicht klar erkennen. Und was sollte ich denn in einem Hospital, ich war doch kerngesund!
Wir rollten vor ein gläsernes Gebäude, das sich als eckiger dunkler Turm abzeichnete. Das schien das Hauptgebäude zu sein. Am Eingang wurde ich von zwei Muskelmännern in weißen Kitteln in Empfang genommen und kommentarlos kassiert. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, dass der Chauffeur einen Koffer aus dem Wagen hob, abstellte, zum Abschied verlegen winkte, schnell einstieg und davon fuhr.
»Moment mal! Wo bin ich hier überhaupt?« Die beiden stämmigen Weißkittel nahmen mich in ihre Mitte, schoben mich in einen Lastenfahrstuhl und beförderten mich in ein oberes Stockwerk des unheimlichen Turmbaus. Ich versuchte erneut, die Schweiger zum Reden zu bewegen: »Würden Sie mir bitte verraten, wo ich bin und was ich hier soll«? Leblos glotzten die Gorillas mich an. Der Aufzug hielt und spuckte uns aus. Mit Hilfe eines umfangreichen Schlüsselbundes öffneten die beiden Kraftpakete Türen aus stabilem Verbundglas und sperrten diese wieder hinter sich zu. War ich in einem Gefängnis gelandet? Mit eiskalter Hand griff mir die Angst in den Nacken.
Nach hundert Metern erreichten wir eine Abteilung, in der einige junge Männer an nackten Tischen saßen und teilnahmslos vor sich hin starrten. Sie wirkten wie lebende Leichen. Fahles Tageslicht kroch durch verrammelte und verriegelte Fenster und legte einen Grauschleier über die Gesichter der Untoten. Zitternde Leuchtstoffröhren tauchten den Aufenthaltsraum in unwirkliches Licht. Es roch nach kaltem Schweiß und überschüssigem Testosteron. Ich fühlte mich wie in einem Asyl seelenloser Zombies.
Die beiden Fleischermeister schoben mich in eine Bürostube. Dort drückten sie mich auf einen Stuhl. »Du bleibst zur Überprüfung für ein paar Tage bei uns«, erfuhr ich aus dem Munde eines dritten Kraftmenschen, der dort vor einem Aktendeckel an einem ansonsten leeren Schreibtisch saß und sich als Oberpfleger bezeichnete. Ich protestierte: »Was soll denn überprüft werden? Ich bin gegen meinen Willen hier und will sofort wieder entlassen werden. Das ist ein klarer Fall von Freiheitsberaubung!« Die Brauen des Oberpflegers stiegen leicht in die Höhe. Er klopfte auf die dünne Akte. »Es liegt ein richterlicher Beschluss für deine Unterbringung in der Jugendpsychiatrie vor. Darin steht, du bist verhaltensauffällig und unberechenbar und sollst von unseren Fachärzten beurteilt werden.«
Was war geschehen? Mit dem Gefälligkeitsgutachten eines Kinderarztes aus der mütterlichen Verwandtschaft, der mich nie gesehen hatte und mit gerichtlicher Hilfe eines Oelder Amtsrichters, der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte, hatte meine Frau Mama eine gerichtliche Verfügung erwirkt. Damit wurde ich zwecks näherer Überprüfung in die Westfälische Klinik für Jugendpsychiatrie Bad Hamm eingewiesen. In ihrer Begründung schrieb sie, und ich fand ihren mit montblancblauer Tinte von Hand geschriebenen Brief Jahrzehnte später bei Sichtung der Klinikakten, als ich Verständnis für ihren Verzweifelungsschritt suchte: »Er tut trotz Verbots, was er will. Seine ganze Haltung ist ein einziger Protest gegen Gott, Elternhaus, Anstand, Ordnung und Sitte.«
Diese hanebüchene Begründung reichte für eine Einweisung aus: vom 24. Juli bis zum 26. September 1967 durfte ich als gerade fünfzehnjähriger Beatnik, dessen Vergehen in Verhaltensauffälligkeit bestand, die Gesellschaft von Mehrfachmördern und heranwachsenden Schwerverbrechern genießen, die von Gerichten zur Untersuchung ihrer Schuldfähigkeit eingewiesen worden waren.
Ein seinerzeit bekannter Jugendpsychiater leitete die Hammer Klinik. Ihm fiel es spürbar schwer, zu begründen, warum er mich unter Verschluss halten musste, und er spürte, dass seine Einrichtung in meinem Fall missbraucht wurde. Er bemühte sich erkennbar um mich und suchte das persönliche Gespräch. Ich war einzig und allein ein Dorn im Auge meiner Mutter, die mich aus Angst vor der öffentlichen Schande loswerden und ungestört ihren Sommerurlaub auf der Nordseeinsel Borkum verleben wollte. Mein Vater blieb derweil wie stets im Hintergrund und ging seine eigenen Wege.
Drei Jahrzehnte zuvor wäre ich als »unwertes Leben« in eine Gaskammer geschoben oder als Versuchskaninchen für wahnwitzige Experimente missbraucht worden. Kurzer Prozess wäre gemacht worden, ein Fleischerhaken, eine Gasdusche oder eine Giftspritze hätten mich erwartet. Ein Exempel wäre statuiert worden, das seine abschreckende Wirkung kaum verfehlt hätte. Mein Glück im Unglück: ich genoss die Gnade der späten Geburt und kam als Nachkriegsmodell mit einigen Monaten Haft im dunklen Turm von Bad Hamm davon.
Mein neues Zuhause war die geschlossene Psychiatrie! Da hockte ich nun als fünfzehnjähriger Beatle im Verein mit Mördern, Mondsüchtigen, Menschenfressern und einer Schar von Wärtern, die dem Schlachthaus entsprungen schienen. Dem ehemaligen Taxifahrer war der Fahrerjob zu anstrengend geworden. Deshalb sattelte der Stiernacken um und wurde Dompteur im dunklen Turm. Sein schmierig schwarz gelockter Kollege, der wegen Korpulenz in keinen Pflegerkittel passte, schaffte vormals als Metzger. Dieser Beruf war zweifellos härter und unattraktiver als der Wärterdienst im öffentlichen Dienst, ergo folgte er seinem Kumpel.
Der Oberpfleger erwies sich als gescheiterter Pädagoge und hatte seine größten Auftritte, wenn er einfältige Fragen stellte. Danach kaute er auf einem Bleistiftstummel herum, mit dem er schwachsinnige Berichte über die Antworten, so er denn überhaupt eine erhalten hatte, schrieb. Weitere Figuren schoben auf der Station auf Staatskosten eine ruhige Kugel und setzten ihre mächtigen Muskeln statt ihrer geringen Geisteskraft ein. Ihre Namen sind wertlos, ihre Erwähnung Energieverschwendung.
Grausam verliefen die Nächte im Turm. Dumpf schlugen die Türen ins Schloss. Sobald die Dreimannzellen verschlossen waren, und die Dunkelheit herein brach, erwachten die lebenden Leichen. Sie sahen, hörten, rochen und fühlten Stimmen. Durch die dicken Wände der dunklen Festung sickerten Laute. Sie kamen erst langsam wie schwere Tropfen, dann zusammenhängend wie ein engmaschiges Spinnennetz, das sich um Arme und Beine, um Nase, Augen, Mund und Ohren schlang und sich schließlich eng und enger zusammenzog.
Lautes Flüstern, heiseres Bellen, tierisches Heulen und markerschütternde Schreie drangen aus den Zellen, in denen die Schatten eingesperrt waren. Wahnsinnige Insassen heulten dort den Mond an, als seien sie Wesen aus fremden Galaxien. Im käsigen Licht des Erdtrabanten klebten sie an vergitterten Fensterscheiben und riefen ihresgleichen. Ihr fahler Blick war auch am Tag verwirrt, bei Sonnenlicht schlichen sie durch einen Sumpf von Neurosen, ohne einen einzigen Ton von sich zu geben.
Die Insassen der Anstalt waren ein Haufen toller junger Hunde. Alle hatten schwere Straftaten begangen und sollten hinsichtlich ihrer Schuldfähigkeit begutachtet werden. Mit einigen von ihnen war kein vernünftiges Wort zu wechseln. Sie dämmerten auf ihren Schemeln, wiegten sich im Takt unhörbarer Musik und erwachten nur, um den roten Mond anzubellen. Andere fingen aus purer Langeweile ständig an, im Aufenthaltsraum aufeinander einzudreschen, zu spucken und zu beißen, ohne dass irgendein Grund ersichtlich war. Das war die Sternstunde der Kraftmeier, die endlich gebraucht wurden und ihre Metzgermuskeln und Stiernacken spielen lassen konnten. Wiederum andere Gefangene wirkten auf mich völlig vernünftig, bei klarem Verstand und kommunikationsfähig. Für diese Mitinsassen verlangte ich Gesellschaftsspiele und begann zur Verwunderung des Personals, mit den angeblich Verrückten friedvoll und mit Hingabe zu spielen.
Um ein klein wenig Abwechslung in meine öde Haft zu bringen, meldete ich mich zum täglichen Küchendienst. Beim Spülen und Abtrocknen half mir ein Zwanzigjähriger, der im Affekt Schwiegermutter, Frau und Tochter mit einem Küchenmesser abgeschlachtet hatte. Die Psychoklinik sollte überprüfen, ob und inwieweit er für seine Tat verantwortlich war. Er vertraute mir und erzählte nach und nach sein gesamtes Leben sowie den Tathergang. Die Situation war im wahrsten Sinne des Wortes verrückt. Ich behandelte ihn wie alle anderen Mitgefangenen völlig normal und sprach mit ihm über das, was er getan hatte, ohne nur im Entferntesten zu fürchten, dass er mich vielleicht ebenfalls im Affekt angreifen könnte. Ich hatte keinerlei Angst vor ihm, ich hatte ihn schließlich auch nicht gequält und zu seiner brutalen Handlung getrieben! Im Gegenteil: ich gewann seine Freundschaft, wurde sein Vertrauter und stand ab sofort unter seinem persönlichen Schutz. Die anderen Insassen fürchteten ihn, weil er als extrem gewalttätig galt, und sie krümmten mir kein Haar, obwohl sie es aufgrund ihrer körperlichen Überlegenheit und latenten Gewaltbereitschaft leicht hätten tun können. Meine allgegenwärtige Angst vor den Wärtern, den Insassen und den Verhältnissen wurde dadurch ein klein wenig genommen, und ich war dankbar für meinen neuen Schutzengel.
Dafür reagierten die Wärter zunehmend sauer und ließen es mich auch spüren. So war ich der einzige Insasse, der ohne Wachschutz zu den Gesprächen mit Psychologen und dem Klinikchef gelassen wurde, um dutzende von Rorschachtests zu durchlaufen; das sind von Hermann Rorschach speziell aufbereitete Tintenklecksmuster, die von der Testperson zu deuten sind und angeblich eine komplexe Persönlichkeitsanalyse ermöglichen. Die Aufseher fühlten sich dadurch in ihrer Bedeutung degradiert, denn ich hätte nach ihrer Ansicht jederzeit einen der Weißkittel erdrosseln können. Stattdessen versuchte ich, mit den Dienst habenden Muskelpaketen ins Gespräch zu kommen und den Sinn ihres Handelns zu erfragen. Meist bekam ich dumme Antworten auf meine Fragen, für die ich mich dann an ihrer Stelle bei Ihnen entschuldigte, um nicht ohne Arroganz intellektuelle Überlegenheit auszuspielen. Dies machte die Bodybuilder rasend, und sie hielten mich für ein besonders gefährliches Subjekt. Mir fiel es hingegen furchtbar schwer, meine Klappe zu halten, denn ich sehnte mich nach dem Normalen, was immer das war, und nach unzensierter frischer Luft.
Wie schon im Heimatort fiel ich in der Hammer Klinik durch unangepasstes Verhalten auf, denn ich wollte mich nicht in das dortige allgemeine Bild des Wahnsinns fügen. Ich weigerte mich, nachts zu schreien. Ich sperrte mich, die roten, blauen und gelben Beruhigungspillen zu fressen, mit denen uns die Pfleger fütterten. Als sie es gewaltsam versuchten, spuckte ich die Drogen kurze Zeit später in der Toilette wieder aus. Ich boykottierte den mit Psychopharmaka verschnittenen Kaffee und trank Leitungswasser. Ich saß alles andere als apathisch in der Ecke wie einige Insassen und starrte stumm die Pfleger an, die jeden Moment bereit waren, sich auf die unheilige Bande zu stürzen, um sie in ihre Zellen zu prügeln. Als einziger Gefangener las ich alles, was ich in die Finger bekam und führte Tagebuch, weshalb die anderen Insassen mich schließlich zu ihrem Sprecher machten und mich bei Konflikten mit den Aufsehern vorschoben.
Ein Tagebuch gleicht einem Regenschirm: Bei Sonnenschein und strahlendem Wetter vergisst man seine Existenz. Sobald sich die Witterungsverhältnisse jedoch ändern und es regnet, greift man zum Schirm und spannt ihn auf. Ich schrieb bereits seit jungen Jahren meine Gedanken in Kladden, Vokabelhefte und Notizbücher. Im dunklen Turm retteten mich das Schreiben und das damit verbundene Hineingleiten in eine eigene Welt vor dem Nervenzusammenbruch. Die Schriftstellerin Anaïs Nin führte zeitlebens Tagebuch. Sie verkroch sich geradezu darin und fand dort ihre eigene Welt. Rund 15.000 Seiten entstanden und wurden postum veröffentlicht. Sie selbst meinte zu ihrem Umgang mit dem Tagebuchschreiben: »Es ist mein Kif, Haschisch, meine Opiumpfeife. Es ist für mich Droge und Laster. Statt einen Roman zu schreiben, lehne ich mich mit diesem Buch und einer Feder zurück und träume und schwelge in Spiegelungen und Brechungen.« Die Pfleger, die mich wie hungrige Hunde belauerten, entrissen mir meine Gedanken, um sie zu analysieren. Sie beschlagnahmten schließlich alle Aufzeichnungen in der sicheren Erkenntnis, dass eine akribische Schilderung der Zustände im dunklen Turm ihrer Karriere hinderlich war.
Es blieben im Laufe der Wochen und Monate, die angeblich für meine Beobachtung erforderlich waren, immer weniger Argumente übrig, mit denen ich weiter festgehalten werden konnte. Vollends problematisch wurde die Begründung für meinen weiteren Zwangsaufenthalt, als die Anstaltsinsassen einen gewalttätigen Ausbruch organisierten, bei dem ein pensionierter Wachtmeister lebensgefährlich verletzt wurde. Der Alte hatte nachts eine der Zellen aufgeschlossen, weil ein Insasse vor angeblichen Leibschmerzen brüllte und gegen die Tür polterte. Der Pensionär öffnete die Zellentür des schmalbrüstigen blonden Jüngelchen, der ihn vielleicht an die Hitlerjungen der letzten Stunde erinnerte. Für diesen schwerwiegenden Fehler wurde er mit einem Stuhlbein brutal niedergeschlagen und seiner Schlüssel beraubt. Alle Zellen wurden von den Aufständischen aufgesperrt. Die Insassen flohen laut grölend in ihren Nachthemden aus dem Gebäude. Doch waren es wirklich alle?
Als die Polizei das verlassene Gebäude stürmte, lag ich mit brav gefalteten Händen als einziger Insasse im Bett und begrüßte die bewaffnete Soldateska, die zur offenen Tür herein linste: »Zeit fürs Frühstück, meine Herren«? Ich war nicht geflohen, wenngleich ich viel gegeben hätte, schnellstmöglich dem Irrenhaus zu entkommen! Alle anderen Flüchtlinge kamen nur wenige Kilometer weit und wurden von der grünen Minna kassiert. Bereits am Abend saßen alle Anstaltsinsassen wieder vereint bei Wasser und Brot und starrten stumpf in die Runde.
Nach mehr als acht Wochen ließ sich keine weitere Lüge ersinnen, um mich weiter in der geschlossenen Psychiatrie festzuhalten. Meine Mutter musste mich wohl oder übel persönlich abholen. Listig versprach sie mir die Freiheit, würde ich meine Haare abschneiden lassen. Ich hoffte so sehr, dem dunklen Turm zu entkommen, dass ich schweren Herzens nachgab und meine Locken opferte. Sie bestimmte einen Friseur, der nach ihren Anweisungen die Schere klappern ließ. Dabei schwor ich mir als westfälischer Dickschädel, meine Haare künftig länger denn je wachsen zu lassen.
Das Schneiden des Haarkleides hat schließlich etwas Symbolisches: im Haar liegt die Kraft des Lebens. Indem das Haar abgeschnitten wird, gerät man in die Gewalt (oder Obhut) desjenigen, der in den Besitz des Haares gelang. Es ist ein Akt der Unterwerfung. Schon in der Bibel schnitt Dalila Samson die Haare ab und beraubte ihn damit seiner außergewöhnlichen Kraft. Für den Augenblick gab ich mich als kleiner Samson geschlagen, doch meine Mutter hatte ihren ältesten Sohn verloren. – Und was wog wohl schwerer?
1975 sah ich den von Milos Forman gedrehten Spielfilm »Einer flog übers Kuckucksnest« mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Bei dem Film lief es mir kalt den Rücken herunter. Alles erinnerte mich an meinen Zwangsaufenthalt in Bad Hamm, und ich brauchte Zeit, bis ich den Film seelisch ertrug.
In dem eindringlichen Streifen lässt sich der von Nicholson gespielte Kleinkriminelle McMurphy in eine psychiatrische Anstalt einliefern, wo er ein unmenschliches System vorfindet. Unter der Herrschaft einer kaltherzigen Oberschwester werden die Insassen mit Medikamenten und Elektroschocks ruhig gestellt und jeder freie Gedanke im Keim erstickt. McMurphy, der sich der Routine der Anstalt nicht anpassen will, rebelliert gegen das strenge Regelwerk und sichert sich damit den Respekt seiner Mitinsassen. Es entwickelt sich eine wortlose Freundschaft zwischen ihm und dem indianischen Häuptling Chief Bromden (Will Sampson), die darin gipfelt, dass der Indianer den durch einen brutalen hirnorganischen Eingriff apathisch gemachten Mitinsassen als größte Freundschaftsleistung, die man einem Freund bringen kann, mit einem Kissen erstickt und danach aus der Anstalt ausbricht.
»Einer flog über das Kuckucksnest« ist eine atemberaubende Satire auf Gesellschaftssysteme, die mit menschenverachtenden Reglementierungen angepasstes Verhalten erzwingen und individuelle Lebensweisen unterdrücken. Das befreiende Lachen über die tragikomischen Situationen in dieser durch die außergewöhnliche schauspielerische Leistung Jack Nicholsons geprägten Tragödie bleibt dem Zuschauer immer wieder im Hals stecken. Das Meisterwerk wurde verdient mit fünf Oscars ausgezeichnet und hätte sehr gut auch in Bad Hamm gedreht werden können.
Später erfuhr ich, dass es auch schlimmer hätte ausgehen können: der brasilianische Erfolgsautor Paulo Coelho wurde von seinen streng katholischen und konservativen Eltern ob seines rebellischen Aufbegehren gegen deren Vorstellungen und Ziele und seiner lendenlangen Locken gleich dreimal in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, wo er mit Elektroschocks traktiert wurde. Mit Coelho stehe ich heute noch über den Kurznachrichtendienst Twitter in Verbindung. Sein in vielen Punkten ähnlicher Lebensweg und dessen schriftstellerische Aufarbeitung gab mir die Kraft, über dieses düstere Kapitel meiner Biographie zu schreiben.
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In Erwartung des ihm ärztlich beschiedenen Tods bringt ein Mann die Geschichte seines Lebens zu Papier: »Der Bücherprinz« schildert schonungslos ehrlich, wie ein Hippie Deutschlands verrücktester Verleger wurde.
Der Autor, der seinen ersten Joint mit Jimi Hendrix rauchte, wirft dabei ein gleißendes Licht auf die 68er-Studentenzeit.
Mit Leidenschaft und Idealismus, pfiffigen Ideen und coolen Konzepten veröffentlichte der Business-Punk die Werke von rund zehntausend Autoren, die ihn dafür zum »Bücherprinz« krönten. Im Selfpublishing gehörte er später zu den Vordenkern des neuen, verlagsfreien Veröffentlichens.
Herzerwärmend aufrichtig zeichnet der Autor seinen Lebensweg vom unangepassten Schüler, langhaarigen Beatles-Fan, trampenden Blumenkind, experimentierfreudigen Chefredakteur und Hofnarr der Kulturszene bis zum innovativen Verlagsgründer.
Ruprecht Frieling aka Prinz Rupi wurde Deutschlands schillerndster Verleger. Er verführt den Leser, dem eigenen Stern zu folgen und sich selbst dabei treu zu bleiben.
Ich habe mir das Buch gekauft. Schon lange war Wilhelm Ruprecht Frieling mir aufgefallen.
Seine Art imponierte mir. Die Besessenheit, das Schräge, der Drang nach Freiheit. Besonders der Fleiß und die Zähigkeit.
Vor allem auch der Wagemut und diese Fügungen, die sich daraus ergaben.
Hineinwachsen und Mitwachsen, haben ihm fast »Flügel verliehen«.
Beim Lesen liege ich am liebsten. Morgens und abends gönne ich mir diese Stunden.
Das Buch »Der Bücherprinz«, wurde von mir mit großer Freude gelesen.
Bücher buchstäblich zelebrieren, das verschafft mir mehr Lesegenuss. Manche überfliegen nur.
Es braucht Hingabe und Zeit, die ich mir nehmen kann. Hier konnte ich eintauchen, fühlen und mehr. Jetzt, Tage später, bin ich immer noch gefangen und lasse die Handlungen nachhallen.
Was ihm anfangs widerfahren war und wie mit ihm umgegangen wurde, unverständlich.
Damals war das unter den jungen Leuten üblich. Beatmusik, lange Haare, Revolte und sämtliche Nebenerscheinungen des Aufbegehrens in den 68-er Jahren. Nicht verständlich für Spießer.
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